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Auf digitaler Spurensuche

Wie Freiwillige bei der Identifizierung von Aschebüchern in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar unterstützen – ein Citizen-Science-Projekt.
Foto: Hannes Bertram
Foto: Hannes Bertram

 

Wer träumt nicht davon, Rätsel um jahrhundertealte Artefakte zu lösen? In Weimar warten noch 1.500 Fragmente von Büchern darauf, in den einstigen Sammlungszusammenhang eingeordnet zu werden. Vor 20 Jahren, am 2. September 2004, vernichtete eine Brandkatastrophe Teile des Historischen Gebäudes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, darunter mehr als 50.000 Bücher und Musikalien. Aus dem Brandschutt wurden 25.000 vom Feuer versengte Buchblöcke und zahllose Fragmente geborgen, deren Identifizierung und teilweise Restaurierung 2028 abgeschlossen werden soll. Um möglichst viele der geretteten Objekte konkreten Buchausgaben zuordnen zu können, setzt die Bibliothek auf freiwillige Detektivarbeit und die Expertise der Öffentlichkeit.


Schwergeschädigtes Kulturgut

Die sogenannten Aschebücher sind die letzte und anspruchsvollste Materialgruppe der 118.000 nach dem Bibliotheksbrand zu bearbeitenden Schadensfälle. Sie waren zum Zeitpunkt des Brandes unmittelbar den Flammen des Feuers ausgesetzt. Die Einbände sind meist nicht mehr vorhanden, haben aber in ihrer Schutzfunktion viele Bücher vor der kompletten Zerstörung bewahrt. Im besten Fall sind unter der veraschten Oberfläche Buchblock und Satzspiegel vollständig erhalten. Wo das Feuer die Bindung löste, zerfielen die Buchblöcke oder gerieten später im Bergungsprozess durcheinander. Die Kraft des Feuers stieß unzählige Buchseiten in die Luft, manche trug der Wind weiter in die Straßen und Gärten Weimars. Noch Jahre nach dem Brand wurden der Bibliothek solche Einzel­blätter übergeben oder zugeschickt.



Die aus dem Brandschutt geborgenen, löschwassergetränkten Aschebücher wurden im Leipziger Zentrum für Bucherhaltung gefriergetrocknet, nach Schadensgraden kategorisiert und auf Paletten nach Weimar zurückgeliefert. Seit 2008 wird dieses äußerst fragile Kulturgut gesichtet, identifiziert und dokumentiert. Für die Restaurierung vorgesehen sind 1,5 Millionen Blatt. In der Spezialwerkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) können jährlich 60.000 Blatt bearbeitet werden. Aschebücher und Fragmente, welche die Auswahlkriterien für eine Restaurierung nicht erfüllen, verbleiben in einem Sondermagazin.

Bibliothekarische Herausforderungen

Zu den bibliothekarischen Arbeiten am Bestand der Aschebücher gehören die Identifizierung und Dokumentation der Exemplare einschließlich erhaltener Provenienzspuren, das Treffen der Restaurierungsentscheidung nach festgelegten Kriterien sowie die Rückführung restaurierter Exemplare in die Benutzung. Bislang konnten mehr als 34.000 Aschebücher korrekt zugeordnet und im Bibliothekskatalog dokumentiert werden. Häufig gelang es über einen längeren Zeitraum, ein Werk durch das Zusammenfügen mehrerer Fragmente wieder zu vervollständigen. Bei der Bearbeitung zeigte sich, dass Aschebücher aus dem Erscheinungszeitraum bis 1850 erheblich leichter zu identifizieren sind als jüngere Bestände.

Die Druckerzeugnisse der Handpressenzeit bieten, auch wenn die Titelseite fehlt, viele Anhaltspunkte für die Ermittlung einer konkreten Ausgabe: Druckermarke, individueller Bleisatz, Kustode, Kolumnentitel, gedruckte Schmuckelemente und andere typographische Merkmale. Im Internet stehen exzellente bibliographische Nachweisinstrumente sowie reichlich Vergleichsmaterial aus der Massendigitalisierung von Altbeständen zur Verfügung. Bei Druckerzeugnissen der industriellen Buchproduktion ab 1850 hingegen sind verschiedene Auflagen einer Ausgabe kaum voneinander zu unterscheiden. Selbst bei vorhandener Titelseite fehlt häufig ein gedrucktes Erscheinungsjahr. Und um eine Vermutung verifizieren zu können, stehen noch nicht im selben Umfang Digitalisate zur Verfügung wie für Alte Drucke. Eine besondere Herausforderung bei der Autopsie von Aschebüchern des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts sind ihre holzschliffhaltigen, durch die Brandeinwirkung äußerst fragilen Papiere. Aus diesem Zeitraum stammen außerdem die meisten zum Zeitpunkt des Brandes noch unkatalogisierten Bestände, die im Dachgeschoss untergebracht waren. Das erschwert ihre Identifizierung, bei der sich nicht an Katalogdaten orientiert werden kann. 

 

Jedes Fragment kann bedeutsam sein

Die Gruppe der nicht identifizierten Aschebücher umfasst aktuell circa 1.500 Einheiten aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Gemessen an der Gesamtzahl aller bisher dokumentierten Exemplare, fällt der Anteil von 4,4 Prozent überraschend gering aus. Dennoch wird für möglichst jedes geborgene Fragment eine Identifizierung angestrebt. Sobald die bibliographische Zugehörigkeit geklärt ist, lassen sich in vielen Fällen bereits aufgefundene Teile des Aschebuchs ergänzen oder Zusammenhänge der Objektbiographie rekonstruieren. Selbst sehr stark zerstörte Fragmente können als materielles Zeugnis des einstigen Exemplars von großem Wert für die Sammlungsüberlieferung und Institutionengeschichte sein. In der Zeit um 1800 arbeiteten die Autorinnen und Autoren der Weimarer Klassik mit den Beständen der Herzoglichen Bibliothek, worüber historische Ausleihbücher Auskunft geben. Im 20. Jahrhundert profitierte die Bibliothek von Erwerbungen aus Unrechtskontexten, die heute in den Provenienzforschungsprojekten der Klassik Stiftung Weimar untersucht werden. 

Die Grenzen, an die das Dokumentationsteam bei der Identifizierung stößt, betreffen zum Beispiel Texte in alten oder seltenen Sprachen, das Nichtvorhandensein von Digitalisaten für den erforderlichen Abgleich oder einzelne Buchillustrationen. Limitiert ist auch die Arbeitszeit, die in die Recherchen zu Zehntausenden Objekten investiert werden kann. 

In einem von der Volkswagenstiftung geförderten Restaurierungs- und Digitalisierungsprojekt bat die Bibliothek deshalb 2013 erstmals die Öffentlichkeit um Unterstützung bei der Identifizierung von 35 restaurierten und digitalisierten Asche­buchfragmenten. In einer großen überregionalen Tageszeitung erschien ein doppelseitiger Artikel »Wer kennt diese Bücher?«. Für den Kontakt mit Hinweisgeberinnen und -gebern war im damaligen Präsentationsmodul der Digitalen Sammlungen eine interaktive Kommentarfunktion integriert worden. Die Erfahrungen waren positiv, doch ein wirklicher Bedarf entwickelte sich erst mit fortschreitender Dokumentation und der Bearbeitung der höheren Schadenskategorien mit gravierenden Substanzverlusten. 

Neuentwicklung der Identifizierungsplattform

Als Folge dieses Bedarfs wurde im Jahr 2021 für die Digitalen Sammlungen der HAAB ein Modul zur Präsentation von Asche­buchfragmenten entwickelt. In den vorhergehenden Jahren wurden bereits grundsätzliche Anforderungen definiert. Dazu gehörten die Einbindung eines Feedback-Formulars mit einem redaktionellen Backend, über das die Hinweise zu den Fragmenten hausintern dokumentiert und bearbeitet werden können. Ebenso sollten Filtermöglichkeiten bestehen, um Werke beispielsweise nach Sprachen sortieren zu können und den Teilnehmenden einen direkten Zugriff auf Fragmente in ihrem jeweiligen Interessengebiet anzubieten.

Der Entschluss, das neue Modul in die Digitalen Sammlungen der HAAB einzubinden, fiel bereits frühzeitig, da dies die nachhaltigste Lösung war. Das auf der quelloffenen Software Goobi viewer basierende Portal wird bereits seit 2014 genutzt und kontinuierlich ausgebaut. Mit über 35.000 digitalisierten Werken und jährlich mehr als 65.000 Nutzenden erfreut es sich in der Fachwelt einer großen Bekanntheit. Nicht unterschlagen werden dürfen die laufenden Kosten für Unterhalt und Weiterentwicklung dieser Software. 

Der Arbeitsprozess gestaltet sich so, dass in regelmäßigen Abständen die während der Dokumentation separierten und fotografierten Fragmente auf der Identifizierungsplattform bereitgestellt werden. Über ein elektronisches Formular werden Hinweise zur Bestimmung der Ausgabe entgegengenommen sowie Links zu Digitalisaten, welche die bibliographische Zugehörigkeit bestätigen. Fragmente, für die eine korrekte Identifizierung gelingt, werden anschließend im Bibliothekskatalog dokumentiert. 

Schon vor Projektbeginn stellte sich die Frage, ob und wie eine Kommunikation der Teilnehmenden untereinander bewerkstelligt werden kann. Ein eigenes Forum mit der Möglichkeit zum direkten Austausch der Nutzer/-innen untereinander und auch mit den Kolleginnen und Kollegen der HAAB ist sicherlich vorteilhaft, wenn gemeinsam am Bestand gearbeitet werden soll. Andererseits bedeutet diese Lösung wiederum einen erhöhten Arbeits- und Kostenaufwand. Die dafür notwendige Software muss entwickelt und dauerhaft betreut werden, und das unter Berücksichtigung der strengen Richtlinien des Datenschutzes. Daher wurde sich zunächst gegen ein solches Angebot entschieden. 



Johanna Seidt, ehemalige Volontärin an der HAAB, wählte die neue Identifizierungsplattform 2022 zum Gegenstand ihrer Masterarbeit im Studiengang »Bibliotheks- und Informationswissenschaft« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Untersuchung mit dem Titel »Citizen Science für Alle. Fallbeispiel und Kriterienkatalog für Bürgerwissenschaftsprojekte in Bibliotheken« erwies sich als äußert wertvoll für die weitere Ausrichtung der Plattform in inhaltlicher und, wie oben auch dargestellt, in technischer Hinsicht. Betrachtet wurden unter anderem die Reichweite bestimmter Kommunikationskanäle und die Nutzer- und Nutzerinnenbindung. 

Kommunikationswege

Die ersten 22 Fragmente wurden am 10. Oktober 2021 anlässlich des Europäischen Tages der Restaurierung auf der Identifizierungsplattform veröffentlicht. Die Bewerbung fand am selben Tag ausschließlich über den Twitter-Account der Bibliothek @DirektorHAAB statt. Mit 75 Retweets, 128 Likes, 17.754 Impressions und insgesamt 1.068 Interaktionen war dieser Tweet der erfolgreichste des seit Februar 2021 bestehenden Accounts. Binnen Tagesfrist wurden erste Fragmente identifiziert. Anzumerken ist, dass der 10. Oktober 2021 auf einen Sonntag fiel. Eine eiserne Regel für die sozialen Medien besagt, dass eine Reaktion auf Beiträge innerhalb weniger Stunden zu erfolgen hat. Dies ist aufgrund der sehr knappen Aufmerksamkeitsspanne erforderlich. Die messbare Resonanz ging bereits nach drei Tagen deutlich zurück, und verebbte am 18. Oktober nahezu völlig. Von den 22 Fragmenten konnten 13 eindeutig identifiziert werden, zu einem weiteren Fragment wurden hilfreiche Hinweise gegeben. Im April 2022 wurden erneut 22 Fragmente online gestellt, diesmal bereits mit einem separaten Bereich zur Anzeige von bereits identifizierten Werken. Dies dient der Sichtbarmachung des gemeinsamen Erfolges aller Beiträgerinnen und Beiträger. Beim zweiten Set zeigte sich, dass eine Bewerbung über Kanäle wie die seinerzeit noch bestehende Mailingliste »inetbib« und diverse Blogs und Fachportale eine deutlich niedrigere Anzahl an Hinweisen einbrachte, als dies über Twitter der Fall war. Folglich wurde Twitter das maßgebliche Instrument für die weitere Kommunikation. In den vergangenen Monaten zeigte sich allerdings aufgrund der stetig schwindenden Attraktivität von dem heute »X« genannten Kurznachrichtendienst der Bedarf nach alternativen Möglichkeiten.  

Aktuelle Ergebnisse und Ausblick

Zum Jahresende 2023 waren Fotos von 173 Fragmenten auf der digitalen Plattform eingestellt. Ab 2024 sollen jeden Monat 100 weitere hinzukommen. Seit dem Start des Projekts wurden 83 Fragmente identifiziert. Zum Erfolg führten vielfältiges Wissen und individuelle Lösungsstrategien der Hinweisgeber/-innen, zum Beispiel besondere Sprachkenntnisse, Expertise in einem bestimmten Fachgebiet, ein außergewöhnliches Text- oder Bildgedächtnis sowie die intuitive Suche mit einzelnen Wörtern und Wortkombinationen. Die aktive Community umfasst etwa 30 Mitwirkende, von denen sich fünf Personen besonders häufig engagieren.  



In Verbindung mit der Öffentlichkeitsarbeit zum 20. Jahrestag des Bibliotheksbrandes am 2. September 2024 soll die Plattform einem »digitalen Facelifting« unterzogen werden. Eine mehrsprachige Benutzeroberfläche soll verstärkt Nutzerinnen und Nutzer im Ausland ansprechen. Außerdem besteht der Wunsch, eine namentliche Nennung der Mitwirkenden getreu dem Motto »Tue Gutes und rede darüber« zu ermöglichen. Gerne möchten wir diesem Wunsch nachkommen, haben doch Untersuchungen bewiesen, dass dadurch die Bindung der »Citizen scientists« an das jeweilige Projekt gefestigt und eine dauerhafte Beteiligung wahrscheinlicher wird.

 

Weitere Informationen: 
Projektsteckbrief: https://www.klassik-stiftung.de/ herzogin-anna-amalia-bibliothek/projekte/identifikation- von-aschebuechern/ 

Ungelöste Fälle:
https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/Identifizierung_Aschebuchfragmente/

Gelöste Fälle:
https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/Identifizierte_Aschebuchfragmente/ 

Katja Lorenz studierte Kunstgeschichte und Russistik, absolvierte ein Bibliotheksreferendariat an der Staatsbibliothek zu Berlin und ist seit 2005 an der HAAB Weimar tätig. Als Leiterin des Fachbereichs Sondersammlungen widmet sie sich der Arbeit mit Handschriften und Alten Drucken, der Provenienz- und Sammlungserschließung sowie der Sammlungsvermittlung.

Andreas Schlüter wechselte nach einer Tätigkeit an der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a. M. 2014 an die HAAB Weimar, wo er unter anderem die digitalen Schnittstellen der Brandfolgeprojekte und die Digitalisierungsprojekte der Bibliothek betreut. Seit 2018 ist er Referatsleiter für Digitale Entwicklung.

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