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Ungerecht von Anfang an

Ein Essay des österreichischen Kulturwissenschaftlers Thomas Macho über das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und die Ungleichheit der Geburtslotterie
Eine Kinderszene aus dem Welttheater "Einsiedeln", Spielperiode 2007, Foto: Judith Schlosser
Eine Kinderszene aus dem Welttheater "Einsiedeln", Spielperiode 2007, Foto: Judith Schlosser

 

1.

Zu den Grundprinzipien moderner Moral zählt die Gewissheit: Alle Menschen sind gleich. Dieser Satz hat den Niedergang und die Wiederkehr der Religionen ebenso überlebt wie alle Versuche, seinen Sinn exklusiv zu erfassen und folglich die Gattung in Über- und Untermenschen einzuteilen. So heißt es etwa in der Präambel der US-Declaration of Independence (vom 4. Juli 1776): »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal«, und im ersten Artikel der Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen (vom 26. August 1789): »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits«. Der erste Satz des ersten Artikels der Universal Declaration of Human Rights, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossen wurde, lautet: »All human beings are born free and equal in dignity and rights«. Zusammenfassend lässt sich also folgern, dass die Idee, Menschen seien von Anfang an gleich zu den elementaren Grundsätzen moderner Verfassungen gehört. Niemand soll durch seine Geburt bevorzugt oder benachteiligt werden. Dabei meint Gleichheit – egalité, equality – nicht nur Gleichheit vor dem Gesetz, nicht nur Gleichberechtigung der Geschlechter und des Lebensalters, der Abstammungen, Sprachen, Kulturen oder Religionen, sondern auch Chancengleichheit, etwa in Bildung, Arbeit, ökonomischem, politischem oder sportlichem Wettbewerb.

Alle Menschen sind gleich? Kaum jemand würde diesen Satz nicht unterschreiben und dennoch wissen wir: Der Satz kollidiert unentwegt mit der Wirklichkeit. Am 13. Januar 2015 schreibt der Soziologe Peter Kaufman in einem Blog zur »Every day Sociology« vom Alltag unserer »Geburtslotterie«: »With 255 babies born every minute that amounts to approximately 367,000 babies born each day. Unbeknownst to these newly delivered earthlings, they are participants of a daily, high stakes global lottery. We generally don’t think of birth as a type of lottery but that is essentially what it amounts to when we consider the life chances of these babies and how their birth location has a significant effect on the structural inequalities they may face.«1 Kaufman erläutert diese These an verschiedenen Statistiken zu Kindersterblichkeit und Lebenserwartung, zu Alphabetisierung und Ernährung; und er resümiert: »One of the key insights of these statistics is that global inequality must be viewed as an ascribed status – as something that we are born into and inherit – and not as an achieved status based on our hard work and effort.« Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangen Ayelet Shachar, Professorin für Rechts- und Politikwissenschaften an der University of Toronto, der Pariser Ökonom Thomas Piketty oder die britische Wissenschaftsjournalistin Gaia Vince in ihrer jüngsten Studie über Klimawandel und Migration.2 



Gewöhnlich wird argumentiert, die Begriffe der Gleichheit und der Gerechtigkeit müssten unterschieden werden. Zwar wird Gerechtigkeit häufig mit der Gleichheit vor dem Gesetz assoziiert. Doch die Gesetze differieren zwischen den einzelnen Staaten und Kommunen; sie sind also erneut der Geburtslotterie unterworfen. Internationale Gesetze – die Erklärungen der Menschenrechte oder die Genfer Flüchtlingskonvention (1951) – werden oft genug zu wenig respektiert, und auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag wird nicht von allen Nationen anerkannt. Flucht und Migration werden durch Grenzen, Kontrollen und Abschiebungen eingeschränkt; rechtsextreme und fremdenfeindliche Parteien in Europa fordern zunehmend die Vertreibung aller ausländischen Menschen. Keine Geflüchteten dürfen ankommen ohne Identitätsdokumente, die den Zufall von Geburtsorten, Geburtsdaten und Staatszugehörigkeiten verzeichnen. In seinen Reflexionen Nach der Flucht bemerkt Ilija Trojanow: »Ein halbes Leben lang hat er den Status staatenlos inne. Das ist keine Nebensächlichkeit. Keine Formalität. Keine bürokratische Petitesse. Bei jeder Einreise warnt er die Mitreisenden hinter ihm, sie mögen sich in eine andere Schlange einreihen. Bei jeder Paßkontrolle erlebt er, wie sehr der Staat dem Staatenlosen misstraut. Er ist eine Provokation für die feinsäuberliche Ordnung des Staates. Eigentlich darf es ihn nicht geben.«3 Dabei sind wir doch alle Immigranten! So hat es Wilhelm Reich in seiner wütend antinationalistischen Rede an den kleinen Mann (aus dem Jahr 1946) ausgedrückt: »Du bist und bleibst der ewige Ein- und Auswanderer. Du bist ganz zufällig in diese Welt eingewandert und wirst lautlos wieder aus ihr vergehen.«4

2.

Wir sind alle Geborene. Doch nichts haben wir selbst gewählt: weder unsere Namen noch unsere Eltern (und deren Berufe), unser Geschlecht, unsere Heimat und Muttersprache, unsere Religion, Kultur oder soziale Zugehörigkeit. Im § 28 der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten betont Immanuel Kant, dass Elternschaft unausweichlich mit Gewalt verbunden ist: mit einer Gewalttat gegenüber dem Kind, das zum Leben gezwungen werde, ohne vorher gefragt worden zu sein, ob es dieses Leben überhaupt führen wolle. Kant hält fest, dass es »eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee« sei, »den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.« Eltern können ihr »Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen«.5 Denn die Zeugung eines Kindes sei eine Gewalttat; der »neue Erdenbürger wird, obgleich Person, nicht gefragt, ob er dasein will oder nicht; er wird zum Leben und ins Leben gezwungen«.6 Kant folgert daher, dass »Kinder nie als Eigentum der Eltern angesehen werden können«, auch und obwohl sie »zum Mein und Dein derselben gehören«.7 

In ihren Reflexionen zur Mutterschaft schreibt Sheila Heti: »Mein Bruder findet, man habe ihm, indem man ihn ungefragt ins Leben gezwungen hat, eine unfaire Last auferlegt«;8 und sie resümiert: »Geboren werden ist nichts per se Gutes.«9 Die Eltern der Autorin sind aus Ungarn nach Kanada emigriert; eine Großmutter hat die Shoah überlebt. Sheila Heti – sie ist ausgerechnet an einem Weihnachtstag, am 25. Dezember 1976, auf die Welt gekommen – will kein weiteres Los der Geburtslotterie erwerben. Dennoch erscheint ihr das Kind, das sie nicht zeugen will, als reale Person: »Ich weiß, dass, je länger ich darüber nachdenke, ein Kind zu kriegen, umso deutlicher die Gestalt jenes Kindes zutage tritt, das nicht auf die Welt kommt. Je länger ich hierüber schreibe, umso deutlicher zeichnet sich dieses nicht geborene Kind als etwas real Existierendes ab, als eine Gestalt, die nicht da ist, als ein spezifischer Mensch, dem das Leben verwehrt bleibt. Vielleicht wird dieses Kind in der Negation tatsächlich lebendig werden. Es wird als sein Gegenbild leben: das nie geborene Kind.«10 In Pedro Calderón de la Barcas Mysterienspiel El gran teatro del mundo, verfasst in den Dreißigerjahren des 17. Jahrhunderts, mitten im Iron Century (nach Henry Kamen11), treten allegorische Personen auf wie die Welt, die Schönheit oder das Gesetz der Gnade, Vertreter der Stände wie der König, der Weise, der Landmann oder der Bettler; in diesem Reigen zeigt sich auch das ungeborene Kind, das nur wenige Textzeilen spricht. Zur Welt sagt es: »Ungeboren heimzukehren, / Brauch‘ ich so viel Zeit nur eben, / Um aus dunklem Kerkerleben, / Aus der Nacht in Nacht zu wandern; / Und ein Grab, wie allen andern / Mußt du mir zuletzt doch geben.«12

In Calderóns Welttheater versperrt der Schöpfer dem Ungeborenen den Weg ins Paradies. Er sagt zum Kind: »Nicht belohnen / Noch bestrafen kann ich dich; / Schuldlos, doch in Schuld geboren, / Bleibt dir Lohn und Strafe fremd.« Und das Kind antwortet: »Tiefe Nacht hält mich umschlossen, / Wie im Traume steh‘ ich blind / Ohne Schmerz und Wonne.«13 Nach katholischer Tradition wurde die Taufe eines Kindes, seine Integration in die Kirche, für wichtiger gehalten als seine Gesundheit oder ein langes Leben; im Mittelpunkt stand das himmlische Heil und der künftige Aufenthalt seiner unsterblichen Seele. Starb das Kind bald nach der Geburt – was häufig genug passierte –, war es daher möglich, den Weg in die nächste Kirche anzutreten und ein Gnadenbild der Gottesmutter oder eines Heiligen zu bitten, das Kind zu »zeichnen«; an sichtbaren Zeichen (wie geröteten Wangen, Atemgeräuschen oder kleinen Zuckungen) sollte jener kurze Moment erkannt werden, für den es ins Leben zurückgerufen wurde, um rasch getauft werden zu können. Die ehemalige Marienkapelle von Oberbüren im Kanton Bern war im Spätmittelalter ein bekanntes Zentrum der Schweiz, an dem gestorbene Kinder auf diese Weise wieder »zum Leben erweckt« werden konnten. 

Bischof Otto von Sonnenberg, gestorben im Jahr 1491, beschrieb diese Praxis mit folgenden Worten: Die »Frauen erwärmten die todten Kinder zwischen glühenden Kohlen und ringsum hingestellten brennenden Kerzen und Lichtern. Dem warm gewordenen todten Kinde oder der Frühgeburt wird eine ganz leichte Feder über die Lippen gelegt und wenn die Feder zufällig durch die Luft oder die Wärme der Kohlen von den Lippen weg bewegt wird, so erklären die Weiber, die Kinder und Frühgeburten atmeten und lebten und sofort lassen sie dieselben taufen unter Glockengeläute und Lobgesängen. Die Körper der angeblich lebendig gewordenen und sofort wieder verstorbenen Kinder lassen sie dann kirchlich beerdigen«.14 Die Marienkapelle wurde in den Zeiten der Reformation abgerissen und erst vor mehreren Jahren archäologisch untersucht; dabei wurde die »Chilchmatt« freigelegt, eine Bestattungsfläche von mehr als 3.500 Quadratmetern, die schon seit der späten Bronzezeit genutzt wurde. An mehreren Stellen wurden Begräbnisflächen für mehr als 250 nach der Geburt verstorbene Kinder entdeckt, die offenbar im Moment ihrer »Wiedererweckung« getauft wurden, wie aus der Körperhaltung der kleinen Skelette mit ihren gekreuzten Armen und der Ausrichtung des Grabs nach Jerusalem geschlossen werden darf.

3.

Die Ungerechtigkeit der Geburtslotterie wird in manchen Religionen durch das Versprechen eines ewigen Lebens und die Auferstehung der Toten relativiert. In der Geheimen Offenbarung des Johannes – vom Ende des ersten Jahrhunderts – wurde beispielsweise die Errichtung einer himmlischen Stadt ohne Lebens- und Planetenzyklen prophezeit. Ausdrücklich hieß es, im neuen Jerusalem würden die Bewohnerinnen und Bewohner »weder Sonne noch Mond« brauchen, denn eine »Nacht wird es dort nicht mehr geben« (Offenbarung 21,23–25); der Tod und die Geburt sollten ausgelöscht und »in den Feuersee geworfen« werden (Offb 20,14). Gott werde »in ihrer Mitte wohnen« und »alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal (Offb 21,3–4). Der tiefe Widerstreit zwischen Geburt, Tod und Gerechtigkeit sollte endgültig aufgehoben werden, im Angesicht aller Toten, die wiederkehren: »Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren« (Offb 20,13). 

Hans Blumenberg hat in einem kleinen Essay – unter dem Titel »Gerichtsverlust« – die historische Aufhebung dieses Versprechens beklagt: »Vielleicht ist von allen Verlusten, die mit der Entkräftung des Christentums einhergegangen sind, der des Credostücks von Jesu Wiederkehr zum Gericht über die Lebenden und die Toten der unersetzlichste. Die Theologen geniert es als Drohung, da sie doch Verheißungen für ›werbewirksamer‹ halten. Sie haben es, sofern sie noch davon sprechen, allegorisiert zur inneren Bewältigung von Schuld oder zur äußeren ›Umverteilung‹ von Schulden. Dabei war das Gericht ursprünglich alles andere als Drohung. Indem es die Schuldigen verwerfen sollte, gab es erst recht denen, die Unrecht erfahren hatten, ihr Teil zurück und drauf. Die verfolgten Gläubigen würden die Triumphierenden des Jüngsten Tages sein. Und das konnten sie kaum abwarten.«15 Unverzichtbarer noch als die Entschädigung der Toten, so argumentierte Blumenberg, sei freilich der eschatologische Vorbehalt, der sich mit der Idee des Gerichts verknüpfe. Nicht umsonst heiße es schon in der Bergpredigt: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« (Mt 7,1) und im ersten Brief an die Korinther: »Richtet also nicht vor der Zeit« (1 Kor 4,5) Blumenberg erinnert an das »bedingte Verbot«, das mit diesen Sätzen ausgedrückt wurde, und schließt mit der Vermutung, dass »der Gottesschwund des Christentums den Gerichtsverlust als Trauma hinterlassen haben könnte«.16 Die Erben dieses Traumas sind Kinder einer Apokalyptik ohne Gerechtigkeit, einer Raserei des verschlingenden Untergangs ohne Enthüllung der Wahrheit, ohne Hoffnung und Aussichten auf die Errichtung einer neuen Welt. Was bleibt, sind Nacht und Tod, Klageschreie und Schmerzen. Je mehr wir verurteilen und richten, desto weniger werden wir imstande sein, Tränen abzuwischen. Wir werden einander zwar verdammen, aber nicht retten.

Im Jahr 1987 erschien Toni Morrisons – 1988 mit dem Pulitzerpreis, 1993 mit dem Nobelpreis ausgezeichneter – Roman Beloved. Man kann diesen Roman, den die New York Times am 21. Mai 2006 zum besten US-amerikanischen Roman der letzten fünfundzwanzig Jahre gewählt hat, als Gothic Novel lesen, als Epos der Sklaverei, auch als Analyse einer Traumatisierung und ihrer Bewältigung. Morrisons Roman basiert auf der wahren Geschichte der um 1834 geborenen afroamerikanischen Versklavten Margaret Garner, die in einer Gruppe, darunter mit ihrem Mann Robert, dessen Eltern und vier Kindern, im Januar 1856 über den vereisten Ohio River aus dem Sklavenhalterstaat Kentucky nach Ohio flüchtete. Als die Sklavenjäger sie nach wenigen Tagen wieder aufspürten, erklärte sie, dass sie ihren Kindern das Schicksal der Sklaverei ersparen wolle – und schnitt der älteren Tochter, ihrem zweitjüngsten Kind, mit einem Messer die Kehle durch. Sie wurde festgenommen und inhaftiert; während ihres Prozesses kam es – wenige Jahre vor Beginn des Civil War – zu aufsehenerregenden Debatten über die Sklaverei, die allerdings keine Wende einleiteten: Margaret Garner wurde nicht unter Bezug auf ein Tötungsdelikt, sondern wegen Zerstörung fremden Eigentums verurteilt und mit ihrem Mann und dem jüngsten Kind, auch einer Tochter, in den Süden verkauft. Als das Schiff, kurz vor New Orleans, zu sinken drohte, stürzten Mutter und Kind ins Wasser. Dabei kam das Baby ums Leben; Margaret selbst starb – nach Angaben ihres Mannes – wenig später im Jahr 1858, höchstens 24 Jahre alt, an Typhus. Noch auf dem Sterbebett soll sie ihren Mann beschworen haben, vor seiner Freilassung nicht wieder zu heiraten.

Die Widmung des Romans – Sixty Million and more – erinnert an die ungezählten Toten, die aus Afrika verschleppt und versklavt wurden. Sie soll nicht, wie in manchen aktuellen Debatten, zur Auflistung von Opferzahlen einladen, sondern vielmehr an das Auferstehungsversprechen erinnern, worauf auch das Motto aus dem Römerbrief hinweist, das den Titel des Romans einführt: I will call them my people, which were not my people; and her beloved, which was not beloved (Röm 9,25). Im Mittelpunkt des Romans steht Sethe, die literarische Verkörperung Margaret Garners, die ehemals entflohene, versklavte, gequälte, misshandelte, vergewaltigte und ausgepeitschte Frau, deren vernarbter Rücken wie ein Baum mit unzähligen Ästen und Zweigen aussieht. Sie hat ihren Mann verloren, zwei Söhne werden fliehen; ihrer älteren Tochter schneidet sie im Angesicht der Verfolger – mit dem Wunsch, dem Mädchen ein Leben im Schrecken der Sklaverei zu ersparen – die Kehle durch. Das Kleinkind wird begraben; auf seinem Grabstein steht nur Beloved. Mit Denver, ihrer jüngeren Tochter, zieht Sethe in ein verlassenes Haus am Rand von Cincinnati, Bluestone Road Nr. 124. Das Haus avanciert bald zum Spukhaus, in dem der »Babygeist«, der nicht weichen will, achtzehn Jahre lang umgeht. Die Situation ändert sich erst, als Paul D – ein ehemals versklavter Mann aus Sethes Vergangenheit in der Plantage, die wie zum Spott Sweet Home genannt wurde – erscheint und eine Liebesbeziehung mit Sethe aufnimmt. Der »Babygeist« verschwindet zwar; doch taucht ein fremdes Mädchen an seiner Stelle auf, mit einer Narbe an der Kehle, eine Schwester für Denver, eine Tochter für Sethe, die sich Beloved nennt; sie verführt Paul D, bevor sie ihn – und danach Denver – vertreibt. Sie ergreift Besitz von ihrer Mutter, der sie mit Zorn, Gier und Sehnsucht begegnet, buchstäblich Fleisch, im Sinne der Predigten, die Baby Suggs, die Großmutter Sethes, die Heilige mit dem großen Herzen, an ihr Volk, an die Gruppe der ehemals Versklavten, zu halten pflegt.17 Und dieses Fleisch wird wiederkehren: im Glück wie im Schrecken. Beloved ist die Zurückgekehrte, in deren Auftritt Erinnerung ermöglicht wird, ein Fleisch der Integration, das den traumatischen Schrecken nicht verleugnet, sondern enthüllt. Und sie wird bleiben, nicht als Spuk, sondern als Fußspur unten am Fluss, in die jeder hineintreten darf (ohne sie zu zerstören), als »a loneliness that can be rocked. Arms crossed, knees drawn up; holding, holding on, this motion, unlike a ship’s«.18 Sie wird bleiben, auch im Horizont der letzten Sätze, die Paul D zu Sethe sagt: »Sethe, me and you, we got more yesterday than anybody. We need some kind of tomorrow.«19 

 

  1. Vgl. Everyday Sociology Blog: The Birth Lottery and Global Inequality [letzter Zugriff: 3. April 2024].
  2. Vgl. Ayelet Shachar: The Birthright Lottery. Citizenship and Global Inequality. Cambridge (Massachusetts)/London: Harvard University Press 2009. Vgl. Thomas Piketty: Natur, Kultur und Ungleichheit. Eine historische und vergleichende Betrachtung. Aus dem Französischen übersetzt von André Hansen. München: Piper 2023. Vgl. auch Gaia Vince: Das nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird. Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Dierlamm. München: Piper 2023.
  3. Ilija Trojanow: Nach der Flucht. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017. S. 44 f.
  4. Wilhelm Reich: Rede an den kleinen Mann. Frankfurt am Main: S. Fischer 1984. S. 53.
  5. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band VIII. Frankfurt am Main: Suhrkamp ²1978. S. 393 f.
  6. Manfred Sommer: Identität im Übergang: Kant. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. S. 21.
  7. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. A.a.O. S. 395.
  8. Sheila Heti: Mutterschaft. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Überhoff. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2020. S. 141.
  9. Ebd. S. 204.
  10. Ebd. S. 123.
  11. Vgl. Henry Kamen: The Iron Century. Social Change in Europe 1550–1660. New York/Washington: Praeger 1971.
  12. Pedro Calderón de la Barca: Das große Welttheater. Aus dem Spanischen übersetzt von Joseph von Eichendorff. Berlin: Holzinger 52016. S. 18.
  13. Ebd. S. 44.
  14. Zitiert nach: Susi Ulrich-Bochsler/Daniel Gutscher: »Wiedererweckung von Totgeborenen. Ein Schweizer Wallfahrtszentrum im Blick von Archäologie und Anthropologie«. In: Jürgen Schlumbohm/Barbara Duden/Jacques Gélis/Patrice Veit (Hrsg.): Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. München: C.H. Beck 1998. S. 244–268; hier: S. 260.
  15. Hans Blumenberg: »Gerichtsverlust«. In: Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. S. 65–71; hier: S. 65.
  16. Ebd. S. 71.
  17. Toni Morrison: Beloved. A Novel. New York: Vintage Books 2004. S. 88.
  18. Ebd. S. 274.
  19. Ebd. S. 273.

Thomas Macho (geboren 1952) forschte und lehrte von 1993 bis 2016 als Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. 1976 wurde er an der Universität Wien mit einer Dissertation zur Musikphilosophie promoviert; 1984 habilitierte er sich für das Fach Philosophie an der Universität Klagenfurt mit einer Habilitationsschrift über Todesmetaphern. Von 2016 bis 2023 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien. 2019 wurde er mit dem Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, 2020 mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. 2023 wurde er zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. Zu seinen neueren Monografien zählen: Das Leben ist ungerecht. St. Pölten/Salzburg: Residenz 2010; Vorbilder. München: Wilhelm Fink 2011; Schweine. Ein Portrait. Berlin: Matthes & Seitz 2015; Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017; Warum wir Tiere essen. Wien: Molden 2022; Sehen ohne Augen. Ottensheim: Edition Thanhäuser 2022.

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