Aus dem Archiv: Wie ein harmloser Tweet der Stadtbibliothek Hannover über ausgelegte Flyer zum Thema Transsexualität einen heftigen Shitstorm auslöste.
»Der Sinn von Politik ist Freiheit« – Mit diesem Zitat von Hannah Arendt schmückt sich nicht nur, aber auch die Stadtbibliothek Hannover in ihrem Hannah-Arendt-Raum. Das Zitat hat die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) als Fotoaufhänger aufgegriffen, um über eine für uns als Bibliothek überraschende Debatte auf Twitter zum Thema »Transidentität bei Jugendlichen« zu berichten.
Doch beginnen wir von vorn. Die Stadtbibliothek Hannover versteht sich – wie fast alle Bibliotheken – als durchaus auch politischer Diskussionsraum, und der Themenkomplex »Demokratiepolitik« im Allgemeinen ist mit dem Wechsel der Direktion im Herbst 2021 noch einmal stärker in den Fokus gerückt. In diesem Kontext hat sich die Zentralbibliothek im Rahmen des Christopher Street Day (CSD) queerpolitischen Fragen zugewandt und entsprechende Materialien unter anderem vom sogenannten Andersraum – dem queeren Zentrum der Landeshauptstadt – im Juni/Juli im Rahmen des Pride Month ausgelegt. Das Event wurde mit einer Medienpräsentation begleitet, eigentlich zu wenig für das Thema, aber eine vertiefende Kooperation steht erst am Anfang.1
Der Pride Month ging zu Ende, die Medienpräsentation wurde aufgelöst, restliche Flyer an der entsprechend thematisch passenden Stelle im Regal präsentiert und irgendwann – einige Zeit später – fand sich auf Twitter unter der Überschrift »Fundstücke aus der Stadtbibliothek« eine Abbildung von zwei Flyern zum Thema Binder und Tucking.
Erstmal zur Begriffsklärung – und hier greife ich – wie es auch die HAZ getan hat – auf die Quelle zu, die auch die Debatte auslösenden Flyer selbst zu verantworten hat, nämlich das queerlexikon:
»Binder sind Kompressionskleidungsstücke, die oft von trans Männern, nichtbinären und gender-queeren Menschen benutzt werden, um eine flachere und maskulin geformte Brust zu bekommen. Das hilft z.B. dabei, besser bestimmte Klamotten tragen zu können, sich im eigenen Körper wohler zu fühlen und in der Gesellschaft sicherer zu sein, und gegen Dysphorie. Binder können ein besseres Passing ermöglichen; das bedeutet, als das Geschlecht anerkannt zu werden, als das du gelesen werden möchtest.«2
»Beim Tucken sollen Penis und Hoden platzsparend ,eingepackt‘ werden, sodass bei darübergetragener Kleidung keine Erhebung, keine Bulge, mehr sichtbar ist. So kann niemand mehr sehen, dass du diese Organe überhaupt hast«3
Der Tweet über die Flyer wurde schnell rezipiert. Ein Twitter-Gewitter nahm seinen Lauf4:
Die Bibliothek welcher Stadt ist das? Ich frage mich, ob das mit den Verantwortlichen dort abgesprochen war, dass die Broschüren in deren Räumen platziert werden dürfen.
In Hannover? Das ist unglaublich. Ihnen weitere Aktionen vorschlagen? »Anorexie, aber sicher: Wie Du Nierenversagen vermeidest« »So spritzt Du Dir Heroin« »Blackout Challenge mit Spaß« »Korsett: 28cm ohne Rippenbruch» »Sekten: Wie verheimliche ich meine Mitgliedschaft?«
Das ist ja voll super! Gleich mal welche bestellen für meine Bücherei. Danke fürs Teilen!
Informationen, die – wenn überhaupt, nur für eine kleine Minderheit relevant sind UND deren Vermittlung in verantwortungsvolle Hände gehört, öffentlich und nicht Zielgruppen bezogen auslegen. Aber gleichzeitig behaupten »Es ist kein Trend.« Neenee, iss schon okay.
Die Broschüren fnde ich sehr wichtig. Gerade als Psychotherapeut. Noch wichtiger die Broschüre mit Telefonnummern bei Gewalt gegen Frauen. Hängt die auf und legt die Broschüren aus!
Warum nicht einfach alle nehmen und in den Müll? Hätte ich jedenfalls gemacht!
Kindeswohlgefährdung!!! Jugendamt informieren, darauf aufmerksam machen, dass Minderjährige gefährdet werden!
Was queere Jugendliche gefährdet: Die mangelnde Akzeptanz ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität und alles was damit verbunden ist. Die Verbreitung von Informationsmaterial, wie sie sicher binden oder tucken können, ist eher ein Gewinn an Sicherheit als eine Gefährdung.
Die Diskussion wurde sehr schnell sehr bunt, bei zahlreichen Tweets konnte auch auf den ersten Blick die Position der twitternden Person nicht so ohne Weiteres zugeordnet werden: Kommen die Aussagen, die Kindeswohlgefährdung und ähnliches thematisieren, eher aus einer rechts-konservativen Ecke? Wieso »ereifern« sich eigentlich feministische Accounts gegen Trans-Themen? Sind jetzt plötzlich TERFS bibliotheks- und nicht nur transfeindlich? Und überhaupt: Eigentlich waren die doch mal enge Verbündete in den queerpolitischen Kämpfen vergangener Tage?5
TERFS, also »Trans-Exclusionary Radical Feminists«, »[…] bezeichnen sich gar nicht als solche, sondern beispielsweise als ›genderkritische Feminist*innen‹ und lehnen die Beschreibung ›Terf‹ ab. Insofern handelt es sich um eine Zuschreibung von außen, was eine allgemeingültige Begrifsdefnition erschwert. […]«6 Und da sind wir auch schon mitten in einer sehr aufgeheizten Debatte, die sich einerseits um die Defnition von Sex, Gender und sozial-biologischen Geschlechterdefnitionen dreht, andererseits aber auch – verständlich auf den ersten Blick – um die Deutungshoheit für Schutzräume. »[…] trans-Frauen seien« so der Tagesspiegel über das Verständnis vieler Terfs »›biologische Männer‹, die versuchten, in Frauenschutzräume einzudringen. Sie sehen vor allem Toiletten oder Frauenhäuser als bedroht, ohne zu beachten, welcher Gewalt und Diskriminierung gerade trans-Personen ausgesetzt sind, wenn sie zum Beispiel öfentliche Toiletten oder Umkleiden nutzen wollen. […]«7
»Wir müssen uns klar positionieren, und solche Positionierungen bleiben schwierig.«
Bibliotheken als öffentliche Räume wollen und müssen Safe Spaces8 sein. Die Wahrung von »Schutzrechte[n] diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen« gilt es zu garantieren. Dabei werden wir es – wie der Fall aus Hannover zeigt – nicht vermeiden können, angreifbar zu werden. Wen gilt es »mehr« zu schützen, auf »welcher Seite« der Debatte stehen wir? Wir müssen uns klar positionieren, und solche Positionierungen bleiben schwierig. Es heißt, schnell und klar zu agieren und zu reagieren, oftmals in Themenfeldern (Binder, Tucking, trans*), in denen wir alles andere als Expert*innen sind.
Die Pressestelle der Stadt Hannover hat uns als Bibliothek kontaktiert, uns selbst – da nicht getaggt auf Twitter – hat die Diskussion »kalt erwischt«. Im ersten Moment wurden dann die Flyer entfernt. »Voreiliger Gehorsam« – ja, einerseits. Andererseits will man ja »handlungsfähig« bleiben. Vielleicht neigen wir als Bibliotheken bei Angrifen erst mal zum Rückzug. »Achtung, hier wollen und müssen wir ›neutral‹ bleiben!«, ist oftmals der erste Refex. Gerade, wenn mit Killerphrasen gearbeitet wird und Behauptungen im Raum stehen, dass »Kindeswohl« gefährdet sei.
Zudem wird gedroht; der »Unterhaltsträger« solle doch uns bitte zurechtweisen. Uns triggern in solchen Situationen stärker als gewollt »[…] Stimmen […, die] sich gegenwärtig oft als Opfer [inszenieren], weil sie angeblich nicht mehr gehört würden. Sie empören sich in diesem Zusammenhang, weil sie eine angebliche Mehrheitsmeinung aussprechen, die vermeintlich lange genug durch liberale Wortkosmetik tabuisiert wurde. […]«9 Hier müssen wir besser und souveräner als Bibliothek werden, vielleicht auch etwas langsamer im Entscheiden: »[…] Im Spannungsfeld von Neutralität, Informationsfreiheit und den Schutzrechten diskriminierter Minderheiten stellt sich auch dem Fachpersonal öfentlicher Bibliotheken die Frage, wie sie die Öfentlichkeit darin unterstützen kann, die Debatten nicht […] vereinnahmen zu lassen. Ohne Zensur auszuüben oder für bestimmte Gruppen Partei zu ergreifen, hat das Fachpersonal von öfentlichen Bibliotheken die schwierige Herausforderung zu bewältigen, darauf eine Antwort zu finden. […]«10
»Ohne Partei zu ergreifen« – ja, im parteipolitischen Kontext gilt dies, da besteht ein konkretes Neutralitätsgebot. Im vorliegenden Fall aber galt es, sich zu entscheiden, und nach Rücksprache mit den Expert*innen aus dem andersraum haben wir dies getan. Die Flyer wurden wieder ausgelegt, unser Statement auf Twitter war eindeutig: »Liebe alle, besagte Broschüre kommt von http://queer-lexikon.de. Als Stadtbibliothek kooperieren wir eng mit https://andersraum.de. Es ist uns ein großes Bedürfnis, als diverser SafeSpace in der Stadtgesellschaft zu fungieren. [….] Generell – und das ist mir und meinen Kolleg*innen wichtig – freuen wir uns immer über Anregungen, die unsere Bemühungen um das o.a. Ziel (safe und divers) unterstützen! [….] Der Bitte ›Entfernen Sie diese Flyer aus der Stadtbibliothek‹ werden wir als #StadtbibliothekHannover nicht entsprechen. Die Broschüren liegen auch bei https://andersraum.de aus. Generell wird die Kooperation erweitert. [….] #divers & #safe bleiben Leitfaden.«11
Für mich war es schwierig, mich bei den vielen difamierenden und angreifenden Stimmen nicht immer wieder kommentierend einzuschalten. Neben dem Shitstorm haben ich persönlich und wir als Institution Bibliothek in der Debatte viel Unterstützung erfahren, aber auch von dieser »Seite« wurde es oft polemisch. Eine »faire« Auseinandersetzung, ein Versuch, unterschiedliche »Seiten« in einen respektvollen Dialog zu bekommen – das ist uns nicht gelungen. Zugegeben: Auf Twitter haben wir uns extrem zurückgehalten, die Debatte in den physischen Raum zeitnah zu tragen, haben wir erstmal verworfen. Für den 10. Dezember – den Tag der Menschenrechte – ist nun gemeinsam mit andersraum eine Veranstaltung geplant, die das Thema noch einmal aufgreift.
Die Debatte und unsere/meine Reaktion und Positionierung wurde im bibliotheksinternen Forum aufgegriffen, und zwar sehr diskursiv, geprägt von einer wie ich finde guten Streit- und Diskussionskultur:12
Dieser Shitstorm ist so weit entfernt von einer konstruktiven Diskussion wie es nur geht, allein schon der Vergleich, als nächstes würden wir zum »Heroin spritzen« aufrufen.
Das Thema Diversität wird gesellschaftlich breit diskutiert und hat dadurch eine viel höhere Aufmerksamkeit, als ich es in meiner bisherigen Biografie erlebt habe. Allerdings habe ich im Laufe der Zeit erlebt, dass es für die Meinungsbildung und breitere gesellschaftliche Akzeptanz von bisherigen Tabuthemen zunächst eine Phase geben muss, in der diese Themen möglicherweise unverhältnismäßig stark im Verhältnis zur betroffenen Gruppe in den öffentlichen Fokus gestellt werden müssen. Auch ich war persönlich erst etwas irritiert über die Darstellung, Beschreibung der Inhalte dieser Flyer. Als Mutter und Oma habe ich dann überlegt, was ich tun würde, wenn meine Kinder (damals) oder Enkelkinder mit diesen Flyern zu mir kommen würden: Kleinere Kinder finden diese an dem Standort nicht, sie »verlaufen« sich nicht allein in die Soziologie-Abteilung. Und ältere? Mit denen würde ich in den Dialog gehen; und das ist doch ein Ergebnis, das wir uns als Bibliothek wünschen können, oder? Von daher schlage ich vor, etwas mehr Gelassenheit walten zu lassen.
Ich persönlich bin in dem Thema Gender, sexuelle Identität usw. wahrlich kein Experte. Aber Informationen sind ein Gut, junge Menschen, aber auch alle anderen Interessierten, sollten sich informieren können.
Ich selbst sehe mich als einen konservativ-liberalen Menschen. Kritische Stimmen bei vielen vergleichbaren und aktuellen Themen, wie eben auch diesem, werden gerne ins rechte Lager verortet oder der Intoleranz unterstellt, dem ist hier nicht so. […] Ablehnung habe ich gegen Flyer, die von der Aufmachung her ohne jeden Zweifel für Kinder und Jugendliche konzipiert sind. Layout, Bilder und Text sind definitiv für Heranwachsende gemacht. Daher ist es auch egal, ob diese im Kinderbereich liegen oder nicht – die Zielgruppe ist eindeutig. Ich finde es sehr suspekt und für eine Bibliothek mehr als unpassend, Anleitungen offen zu legen, die in kindlicher Art und Weise erklären, wie man Geschlechtsorgane abbindet, versteckt oder Ähnliches. Das ist kein Weg in Richtung ›#divers‹ & ›#safe‹ sondern in Richtung Selbstverstümmlung.
Schön, wie sehr sich Twitter um die Massen an Kindern und Jugendlichen sorgt, die sich tagtäglich durch dir Soziologieabteilung wälzen...
Besonders weit komme ich in diesen »Diskussionen« nie, weil es mich mitnimmt, wie engstirnig, borniert, intolerant bis hasserfüllt Menschen sein können. Umso mehr freue ich mich, die positiven bis teils lustigen Reaktionen des Kollegiums zu sehen. Leider darf man die ja nicht als selbstverständlich sehen, darum tue ich das auch nicht und freue mich über positiven Ausgleich für mein Bild der Gesellschaft ;)
Auch hier, in der internen Debatte gilt: Nicht jede Meinung muss jede*r teilen, aber es ist gut, dass es Freiräume und den Mut gibt, unterschiedliche Positionen zu äußern. Daran wachsen wir als Institutionen, und diese Unterschiede – auch das ist ein Aspekt von Diversity – müssen wir aushalten. Nicht immer ist ein Konsens möglich, manchmal dürfen und müssen Positionen auch unvereinbar nebeneinanderstehen. Als Bibliotheken sind wir vor allem dem Grundgesetz verpflichtet, der »Würde des Menschen«. Diese muss im Diskurs gewahrt bleiben, diesen Schutz-Raum zu geben sind wir verpflichtet, nach innen wie nach außen.
Wo die Grenzen liegen, muss im Einzelfall verhandelt und überdacht werden. So beschäftigt mich – eher grundlegend als bezogen auf den hier geschilderten Fall – immer wieder auch die folgende Aussage auf Twitter – gerade auch vor dem Hintergrund meines Profils, in dem ich mich sehr klar als »queer. links. dem wandel verpflichtet. bibliothekar aus leidenschaft« beschreibe:
»Haben Sie jemals daran gedacht, ihre persönlichen Präferenzen und politischen Anschauungen nicht zum Maßstab für das Handeln als zu politischer Neutralität verpflichteter Bediensteter zu machen?«
Und als (ehemaliger?) Aktivist auch für queere Themen bleibt diese Frage aktuell. Dennoch: Ich bin und bleibe überzeugt, dass wir eine »wehrhafte Demokratie« benötigen, dass wir weder als Bibliothek noch als Bibliothekar*in neutral in einem passiven Verständnis sein dürfen. Wir bilden und wir vermitteln Kenntnisse »[…] mit dem Ziel, autonome und mündige Bürger zu erziehen. […] Die[se] Vermittlung […] kann jedoch nicht wertfrei erfolgen.«13 Bibliotheken als öffentliche Räume müssen, so habe ich es mit Cornelia Vonhof an anderer Stelle geschrieben,»dem Anspruch gerecht werden, Einzelne vor Zumutungen durch Diskriminierungen und Verletzungen zu bewahren, zudem aber auch für Irritationen, Unannehmlichkeiten und Konfrontationen im Sinne von ‚Bitte stören‘ – raus aus der Komfortzone – sorgen; eine schwierige Balance, die nicht ohne Konflikte zu halten sein wird.«14 Von daher: Stolpern wir weiter, parteipolitisch neutral und demokratiepolitisch mit einer Haltung, in der wir uns immer wieder hinterfragen lassen.
Seit September 2021 leitet Prof. Dr. Tom Becker (Foto: Stadtbibliothek Hannover) die Stadtbibliothek Hannover, nachdem er zehn Jahre lang an der TH Köln eine Professur inne hatte. Vorherige Stationen in München und Mannheim bei den dortigen Öffentlichen Bibliotheken haben ihn ebenso geprägt wie jahrelanges parteipolitisches Engagement auf kommunal- und bundespolitischer Ebene sowie seine Funktionen im Berufsverband Information Bibliothek (BIB).