Leseförderung auf High Heels

Lady Sasha sorgt mit ihrem Dragqueen-Bilderbuchkino für gelebte Vielfalt in der Hamburger Bücherhalle Dehnhaide.
Lady Sasha ist 2015 aus Syrien nach Hamburg gekommen und liest als Dragqueen vor. Foto: Bücherhallen Hamburg

 

Bilderbuchkinos gehören zu den Standardveranstaltungen in Bibliotheken: Das dialogische Vorlesen sowie die Bildbetrachtung und -beschreibung sind ein wichtiger Bestandteil der Leseförderung. In der Regel werden Bilderbuchkinos von Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeitern durchgeführt – so auch in der Bücherhalle Dehnhaide, einer Zweigstelle der Bücherhallen Hamburg. Seit einiger Zeit bekommt das Personal hier zusätzlich glamouröse Unterstützung von der Dragqueen Lady Sasha, die dem bekannten Format eine besondere Note gibt. Lady Sasha tritt stilecht in rosa Perücke und High Heels auf und erfreut sich bei Kindern und Eltern großer Beliebtheit. Die Idee stammt aus den USA und die Nachahmer/-innen in Hamburg finden: Es dürfen mehr Veranstaltungen dieser Art werden!

Freitag, 16:30 Uhr in Barmbek-Süd, einem urbanen Wohnquartier im Hamburger Osten: Kinder im Kita- und Grundschulalter machen es sich auf Sitzkissen vor einer Leinwand bequem, ein Kleinkind krabbelt zwischen den Kissen umher. Etwas abseits sitzen Erwachsene auf Stühlen, einige kleinere Geschwister schlafen in Kinderwagen. Gleich startet das beliebte Bilderbuchkino, das die Bücherhalle regelmäßig anbietet. Die Bücherhalle Dehnhaide ist eine kleine Nachbarschaftsbibliothek im System der Bücherhallen Hamburg und einer der Träger des Community Centers und Mehrgenerationenhauses Barmbek Basch. Doch heute liegt etwas mehr Glamour in der Luft als gewöhnlich: Die Vorleserin heißt Lady Sasha, ist 2015 aus Syrien nach Hamburg gekommen und liest als Dragqueen vor. In Barmbek-Süd hat sie seit 2021 eine wachsende Fangemeinde.

Die Idee für ein solches Format stammt aus den USA, wo die Autorin Michelle Tea die erste »Drag Queen Story Hour« 2015 in einer Bibliothek in San Francisco initiierte – inzwischen finden Veranstaltungen unter diesem Label weltweit und neben Bibliotheken auch in Schulen, Buchhandlungen und anderen Einrichtungen statt. Die Bücherhalle Dehnhaide hat sich davon inspirieren lassen und bietet in Kooperation mit pro familia Hamburg1 seit 2021 das Dragqueen Bilderbuchkino mit Lady Sasha an.2

Drag bezeichnet eine Form von Crossdressing, bei der Performer/-innen in vermeintlich dem »anderen« Geschlecht zugeschriebenen Kostümierungen auftreten und wird vor allem in der LGBTQI-Community praktiziert.3 Dabei wird bewusst mit Normen und Klischees gespielt, sodass heteronormative Sehgewohnheiten gebrochen werden. Drag soll kein natürliches Abbild einer weiblichen Norm oder das Assimilieren als Frau sein, sondern ist eine ganz eigene Ausdrucksform, die das »Weibliche« gewissermaßen »überperformt« und männlich konnotierte Merkmale (zum Beispiel Bart oder Brustbehaarung) gleichzeitig sichtbar lässt.

Es ist okay, anders zu sein

Spielerisches Nachahmen und Verkleiden gehört für Kinder zur Lebenspraxis und wird auch in der pädagogischen Arbeit genutzt. Gleichzeitig setzt bereits ab dem zweiten Lebensjahr ein Bewusstsein für die eigene Geschlechtszugehörigkeit ein und viele Kinder fügen sich fast automatisch in die vorgelebten geschlechtlichen Normen ein.4 Vor allem Kinder, die nicht in diese Norm passen oder von ihr abweichen, leiden unter den beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten und brauchen Identifikationsfiguren, die deutlich machen: Es ist okay, anders zu sein. Zudem ist der Kontakt zu möglichst unterschiedlichen Lebensweisen für Kinder ganz generell ein Gewinn, denn nur durch solche Begegnungen können Kinder lernen, mit Vielfalt umzugehen und diese zu leben.5

Die Bücherhallen Hamburg setzen sich aktiv für gelebte Vielfalt ein und zeigen dies auch in einem diversitätsbewussten Medienbestand sowie in den angebotenen Veranstaltungsformaten.6 Ein Beispiel für diversitätsorientierte Veranstaltungsarbeit ist das Dragqueen Bilderbuchkino, denn hier erleben die Kinder das Zusammenspiel aus einem bekannten Format, das durch eine neue überraschende Komponente gebrochen wird.

Während Dragqueens im popkulturellen Mainstream größtenteils angekommen sind, richten sich Formate mit Drag Performerinnen und Performern weiterhin mehrheitlich an ein erwachsenes Publikum. Dass Drag auch in der bibliothekarischen Bildungsarbeit sinnvoll eingesetzt werden kann, zeigt neben den US-amerikanischen Vorbildern auch das Beispiel aus der Bücherhalle Dehnhaide. Bilderbuchkino sowie andere Vorleseformate sind ein fester Bestandteil der Bibliotheksarbeit und ein wichtiges Element der Leseförderung. Bewährte Elemente des klassischen Bilderbuchkinos kommen auch beim Dragqueen Bilderbuchkino in der Bücherhalle Dehnhaide zum Einsatz, allerdings sind die Kinder hier mit der imposant gestylten Lady Sasha als Vorleserin im Dialog.

Beschäftigung mit Toleranz und Diversität

Die Bücher werden von der Autorin dieses Beitrags, Franziska Schnoor, als der zuständigen Bibliotheksmitarbeiterin, Sebastian Beyer, Sexualpädagoge bei pro familia Hamburg, und Lady Sasha gemeinsam ausgesucht und sollen Kinder in ihrer Individualität bestärken und Mut machen, sich auszuleben, sind aber nicht zwingend auf eine geschlechtsspezifische Thematik beschränkt. Die Kinder sind so eingeladen, sich ebenfalls mit Toleranz und Diversität zu beschäftigen, wobei Lady Sasha eindrucksvoll vor Augen führt, dass Identitäten sehr unterschiedlich ausgelebt werden können. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch eine Vorleserin, die Deutsch nicht als Erstsprache erlernt hat, was insbesondere für Kinder mit einem mehrsprachigen Background oder familiärer Migrationsgeschichte wertschätzend ist.

Im Anschluss ans Bilderbuchkino können die Kinder auch selbst mit besonderen Ausdrucksformen spielen und etwa Nagellack ausprobieren oder mit Lady Sasha tanzen. Zudem bringt die Dragqueen, die bereits in Syrien kunstpädagogisch mit Kindern gearbeitet hat, viele Erfahrungen und Ideen für diesen Austausch mit. Viele Kinder wünschen sich gemeinsame Fotos und sind inzwischen Stammgäste: Sie kommen zu den Terminen ebenfalls extra herausgeputzt und verlassen die Veranstaltungen mit leuchtenden Augen.

Dabei sind sie einerseits begeistert von dem beeindruckenden Erscheinungsbild Lady Sashas, andererseits machen sie sich erstaunlich wenig Gedanken über die Geschlechtszugehörigkeit der Dragqueen und nehmen sie mit einer großen Selbstverständlichkeit hin.7 Sebastian Beyer, der als Ansprechpartner für Eltern und Interessierte bei den Veranstaltungen ebenfalls anwesend ist, plädiert in diesem Sinne für eine gendersensible Pädagogik, die Kindern Freiräume eröffnet und das Hinterfragen von normierenden Systemen zulässt, denn das ist für alle Kinder ein Gewinn: Die Kinder, die mit Normen kämpfen, finden in Lady Sasha eine Identifikationsfigur und sehen, dass es gut ist verschieden zu sein. Alle anderen Kinder erlernen einen selbstverständlicheren Umgang mit Vielfalt und bekommen diverse Lebensrealitäten vorgelebt und können so auch für sich selbst entscheiden: Wie möchte ich Mädchen oder Junge sein?

So profitieren alle Kinder von mehr Vielfalt. Dragqueen Bilderbuchkino ist ein Beitrag für eine vielfältigere Gesellschaft, in der (Geschlechter-)Normen infrage gestellt werden und für alle mehr Ausdrucksmöglichkeiten aufgezeigt werden.

1 Unter dem Dach von pro familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V. befinden sich zahlreiche Beratungsstellen in ganz Deutschland. pro familia Hamburg ist einer von 16 Landesverbänden in Deutschland.

2 Das Format wird finanziert von den Bücherhallen Hamburg, pro familia Hamburg und ist gefördert vom Bundesprogramm Mehrgenerationenhaus.

3 Vgl. Matthew Riemer, Leighton Brown: We Are Everywhere. Protest, Power, and Pride in the History of Queer Liberation. New York: Ten Speed Press, 2019, S. 58

4 pro familia Hamburg: 10 Fragen. 10 Antworten. Elternratgeber. Hamburg: 2019, S. 23

5 Nils Pickert: Prinzessinnenjungs. Weinheim Basel: Beltz 2020, S. 45

6 Vgl. Sylvia Linneberg. Diversitätsorientierte Öffnung in Öffentlichen Bibliotheken am Beispiel der Bücherhallen Hamburg. In: Bibliothek Forschung und Praxis, vol. 46, no. 1, 2022, S. 74-81

7 Vgl. Pickert (Anm. 7) S. 45

Franziska Schnoor (M.A.) hat an der Leuphana Universität in Lüneburg Kulturwissenschaften studiert und arbeitet seit 2018 bei den Bücherhallen Hamburg. Seit 2021 ist sie als Koordinatorin der Bücherhalle Dehnhaide schwerpunktmäßig für Veranstaltungen und Kooperationen zuständig, zudem koordiniert sie für die dezentralen Standorte die Veranstaltungsarbeit im Bereich Medienkompetenz.

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