»Demokratie ist Haltung!“

Der BIB kommentiert die Entscheidung des OVG zu den Warnhinweisen in der Stadtbücherei Münster: Bibliotheken müssen Desinformation benennen dürfen.
»Demokratisches Bewusstsein und Handeln müssen erlernt und jeden Tag aufs Neue gelebt und verteidigt werden«, heißt es im Koalitionsvertrag der Landesregierung in NRW. Bibliotheken sind dazu bereit – brauchen aber einen rechtssicheren Rahmen. Foto: Andreas Gruhl - stock.adobe.com

Die Stadtbücherei Münster hat den Einordnungshinweis »Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt«, der in den beiden Exemplaren eines in ihren Regalen vorgehaltenen Buchs angebracht ist, zu entfernen. Dies hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) am 8. Juli entschieden und damit dem Eilantrag des Autors stattgegeben. Der Berufsverband Information Bibliothek (BIB) nimmt im folgenden Kommentar Stellung zu der Gerichtsentscheidung:

Die Begründungen des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichtes Münster vom 8. Juli 2025 sind ein Schlag ins Gesicht aller, die für Aufklärung und Medienkompetenz stehen; dem »Kulturkampf von rechts« wird hier der Weg geebnet. Dabei hat die Stadtbibliothek Münster einen für sie richtigen, zurückhaltenden Weg gewählt: Zugang ermöglichen, aber einordnen. Das also, was wir im Bestandsmanagement bei der Kaufentscheidung, was wir bei Ausstellungen, was wir bei der Systematisierung, was wir mit Auswahlverzeichnissen und bei Rezensionen im Bibliothekskatalog bereits alltäglich mit unserer Fachkompetenz, was wir über Aufkleber bei Bestsellern, queerer Literatur oder Horror-Büchern tun.

»Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt« stand auf dem Einordnungshinweis. Kein Verbot, keine Zensur, nur ein Hinweis, der Lesende ermutigt, kritisch zu prüfen. Dass ein solch vorsichtiger Hinweis als Grundrechtsverletzung gewertet wird, ist grotesk. Im konkreten Fall wird angeordnet, dass die Stadtbibliothek Münster nach Ansicht des OVG problematische Werke unkommentiert ins Regal stellt – aus Angst, Grundrechte der Autor*innen zu verletzen. Das ist absurd. Und es ist gefährlich.

Wir leben in einer Zeit orchestrierter Desinformationskampagnen, in der populistisch-verquere Sachbücher massenhaft gestreut werden, um Meinungen gezielt zu beeinflussen. Wer Bibliotheksbeschäftige in diesem Klima auf die Rolle passiver Verwalterinnen reduziert, macht sie zu Komplizinnen dieser Strategien. Denn Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass manipulative Inhalte unkommentiert verbreitet werden müssen. Sie bedeutet nicht, dass Bibliotheken sich dumm stellen müssen, um nicht anzuecken. Sie bedeutet schon gar nicht, dass demokratische Bildungseinrichtungen so tun müssen, als ob Fake News und faktenbasierte Recherche gleichwertige Positionen wären. Wer Bibliotheken zwingt, eindeutige Fake News unkommentiert ins Regal zu stellen, fördert »Desinformationsfreiheit« auf Kosten einer aufgeklärten demokratischen Öffentlichkeit. Dies ist ein falsches, ein pseudoneutrales Verständnis von Mündigkeit und vorpolitischen Orten, als die wir uns Bibliotheken, als die wir uns Mitarbeitende verstehen.

Bibliotheken sind Bildungs- und Diskursorte, wir Mitarbeiter*innen sind Lots*innen. Parteipolitisch neutral und demokratiepolitisch mit Haltung fördern wir Bildung und Informations- und Medienkompetenz. Wer uns untersagen will, problematische Inhalte zu kontextualisieren, zwingt uns in eine Rolle, die wir nicht haben wollen, nämlich in die eines neutralen Lagerraums, einer reinen Medienausleihstation. Kuratierte Büchersammlungen, Leseempfehlungen, Autor*innenlesungen, Veranstaltungen – alles enthält Wertungen. Und das ist auch gut so. Bibliotheken bieten Orientierung in einer unüberschaubaren Informationsflut, sie lassen dabei den Aufsuchenden, unseren Gästen die Wahl, was angenommen wird, was ignoriert wird, womit sich Einzelne beschäftigen möchten oder welchen Grad an Irritation jede*r heute erträgt. 

Die Förderung der Informations- und Medienkompetenz kann nur dann professionell erfolgen, wenn auch kritische Diskurse mit bestimmten Werken möglich sind. Wer uns das verbieten will, untergräbt unsere Funktion als Orte der demokratischen Aufklärung, untergräbt unsere Relevanz als Diskursraum.

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag die Bekämpfung von Desinformation versprochen. Wenn sie es ernst meint, muss sie den Bibliotheken den Rücken stärken. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) schreibt in ihrem Koalitionsvertrag1: »Demokratisches Bewusstsein und Handeln müssen erlernt und jeden Tag aufs Neue gelebt und verteidigt werden. Demokratie ist für uns mehr als formale demokratische Verfahren. Demokratie ist Haltung.« 

Wir werden die Landesregierung – und nicht nur die in NRW – an dieser Haltung messen: Aufklärung braucht Mut – und das Recht, Desinformation als solche zu benennen.

Prof. Dr. Tom Becker (Demokratiepolitischer Sprecher des BIB),

Dr. Ute Engelkenmeier (Vorsitzende des Bundesvorstands des BIB)

 

[1] Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen, Koalitionsvereinbarung von CDU und Grünen 2022–2027, S. 91

 

Beschluss Verwaltungsgericht Münster vom 11. April 2025, 1 L 59/25

Beschluss Oberverwaltungsgericht Münster vom 08.Juli 2025, 5 B 451/25

Wir unterstützen und empfehlen: Stellungnahme Deutscher Bibliotheksverband vom 17. Juli 2025

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