Die Warburg Library in London: Im Exil zu internationalem Ansehen

Am 12. Dezember 1933 stachen in Hamburg zwei Frachter mit Ziel London in See. An Bord: Tausende Bücher, Regale und Katalogkästen – die Bibliothek Aby Warburgs.
Das Warburg Institute: 1958 bezog die Bibliothek dieses Gebiet am Woburn Square in London, in direkter Nähe zum British Museum.
Das Warburg Institute: 1958 bezog die Bibliothek dieses Gebiet am Woburn Square in London, in direkter Nähe zum British Museum. Foto: Philafrenzy (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Warburg_Institute.JPG), https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode

 

Russlands Angriff auf die Ukraine wird mit der Begründung geführt, so die russische Propaganda, die Ukraine sei keine eigene Nation und habe keine eigene Kultur, das ganze Land gehöre eigentlich zu Russland. Vor allem in den ersten Kriegsmonaten zerstörten russische Truppen nicht nur Wohngebäude und Infrastruktur, sie bombardieren auch Denkmäler, Theater und Museen. Russische Soldaten begingen zahllose Plünderungen, und es mehrten sich die Hinweise, dass die Armee in besetzten Gebieten museale Sammlungen beraubt und wertvolle Bestände nach Russland überführt haben, eine Handlungsweise, die als »kultureller Genozid« interpretiert werden muss. Einige ukrainische Kulturschaffende haben den zuständigen Behörden vorgeworfen, man hätte zur Erhaltung von Sammlungen rechtzeitig deren Evakuierung vornehmen sollen, ein Unterfangen, das in Deutschland vor rund neunzig Jahren tatsächlich gelang: Die Rettung einer jüdischen Bibliothek, die ihrer Vernichtung seitens des nationalsozialistischen Regimes durch die Flucht ins Ausland entging. Die Rettung einer jüdischen Bibliothek, die ihrer Vernichtung seitens des nationalsozialistischen Regimes durch die Flucht ins Ausland entging.

Die Bibliotheksgründung im Hamburg

Wer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Bankiersfamilie aufwuchs, der konnte davon ausgehen, dass ihn gesellschaftlich wie finanziell ein komfortables Leben erwartete. Aby Warburg (1866-1929) war der älteste Sohn der jüdischen Familie Warburg, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Hamburg niedergelassen hatte, wo sie zunächst als Geldwechsler und später als Bankiers mit internationalen Finanzgeschäften tätig waren.

Als Jugendlicher ließ Aby, nach seiner Genesung von einer Typhuserkrankung, die ihn dauerhaft physisch geschwächt hatte, nur geringes Interesse am Finanz- und Bankwesen erkennen, vielmehr wandte er sich der umfassenden Lektüre kulturhistorischer Schriften zu. Bereits im Alter von 13 Jahren soll er, wie später die Familie berichtete, seinem jüngeren Bruder Max sein »Erstgeburtsrecht«, nämlich den Posten des Direktors des Privatunternehmens Warburg Bank, abgetreten haben gegen die Zusicherung, dass dieser seinen Berufsweg als Privatgelehrter und Büchersammler großzügig unterstützen werde. Denn Rabbi zu werden, wie von seiner konservativen jüdischen Verwandtschaft gewünscht, schlug der Heranwachsende auch nachdrücklich aus.

Stattdessen entschied er sich für ein Studium der Kunstgeschichte an der Universität Bonn, das er in München und Florenz fortsetzte und 1892 in Straßburg mit einer Dissertation über den Renaissancemaler Sandro Botticelli abschloss. In den folgenden Jahren reiste er, hielt Vorträge, veröffentlichte Studien zur Kunst der Renaissance und heiratete 1897 die Malerin und Bildhauerin Mary Hertz, die Tochter eines hanseatischen Kaufmanns. Das Paar ließ sich 1898 in Florenz nieder, wo sie rege am gesellschaftlichen Leben der Kunstmetropole teilnahmen.

 
»Als Jugendlicher ließ Aby nur geringes Interesse am Finanz- und Bankwesen erkennen, vielmehr wandte er sich der umfassenden Lektüre kulturhistorischer Schriften zu.« 

 

Seine Studien machten die Konsultation internationaler Forschungsliteratur nötig, und da die florentiner Bibliotheken solche breite Literaturkollektionen nicht aufwiesen, bat er mehrfach seinen Bruder Max, mittlerweile Leiter des Bankhauses, ihm die Finanzressourcen für seine diversen Ankäufe bereitzustellen.

Im Verlauf des Jahres 1900 gab ihm sein Bruder schließlich die Zusicherung, dass er den Aufbau einer privaten Forschungsbibliothek dauerhaft finanzieren werde. In den florentiner Jahren galt Warburgs Interesse allem, was an historischen Personen und Ereignissen, mythischen Figuren, Symbolen und Ritualen, die von der Antike übernommen wurden, zum Stilwandel der italienischen Kunst der Frührenaissance beigetragen hatte.

1902 kehrte er nach Hamburg zurück und stellte die Ergebnisse seiner Forschungen in einer Reihe von Vorträgen einem internationalen Fachpublikum vor. Der breite Ansatz seiner Recherchen schlug sich in international getätigten Erwerbungen für seine Bibliothek nieder, und mit den Jahren wurden Forscherkollegen und Studenten als Nutzer der Kollektion eingeladen.

1909 erwarb Warburg ein Haus im Hamburger Stadtteil Eppendorf, das für seine Kollektion hinreichend geräumig war und auch improvisierte Vortragsräume und Büros aufwies. In Gesprächen mit seinem Assistenten Fritz Saxl wurde die Idee erörtert, die Bibliothek in ein öffentliches Institut umzuwandeln.

Die Frage stellte sich Ende des Ersten Weltkriegs drängender, als Aby Warburg, von den ernsten wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Nachkriegszeit bedrückt, eine depressive Phase durchlebte, die sich zu einer schweren Psychose auswuchs und schließlich zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik und später in ein Sanatorium führte, aus dem er mit Anzeichen einer psychischen Stabilisierung 1924 entlassen wurde.

Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek

1920 umfasste die Sammlung rund 20.000 Bände, und Fritz Saxl begann als kommissarischer Leiter eine Reorganisation mit dem Ziel, Lehrende und Studierende der 1919 gegründeten Hamburger Universität an die Bibliothek heranzuführen. Das Kunsthistorische Seminar der Universität war erst im Aufbau und öffentliche Finanzmittel waren knapp, sodass dessen Kollektion nur langsam zunahm. Daher fand sich schnell ein Kreis von Wissenschaftlern, der für Forschungen und zu Vorträgen gern die Bibliothek Warburgs aufsuchte. 

So wandelte sich seine Sammlung von einer Privatbibliothek zu einer öffentlichen Institution, die auch während der grassierenden Inflation der Jahre 1921 bis 1923 durch die verlässlichen Zuwendungen der in Amerika ansässigen Familienmitglieder finanziell abgesichert war. Die stetig eingehende Bücherflut hatte aber zur Folge, dass die Bibliothek sich langsam des ganzen Wohngebäudes bemächtigte. 

Daher begann Aby Warburg nach seiner Rückkehr aus der Klinik auf dem Nachbargrundstück, das er vorausschauend erworben hatte, mit einem Neubau für seine Sammlung, finanziert von seinen Brüdern. Das 1926 bezogene Gebäude, konzipiert für einen Bestand von rund 120.000 Bänden, enthielt neben Magazinen einen großen ovalen Lesesaal, der sich auch als Hörsaal nutzen ließ, Arbeitsräume, Gästezimmer, ein Fotolabor und eine Buchbinderei. Die fortan »Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg« (KBW) genannte Einrichtung entwickelte sich dank der vielen fremdsprachigen Titel auch zur Anlaufstelle für zahlreiche Geisteswissenschaftler, deren Universitätsinstitute sich gleichfalls erst im Aufbau befanden. Zum Zeitpunkt von Warburgs Tod 1929 umfasste die KBW circa 60.000 Bände.

Mit dem Tod des Stifters stellte sich für Fritz Saxl die drängende Frage, welcher Institution diese reich mit Spezialbeständen bestückte Privatbibliothek, der möglicherweise die Auflösung drohte, assoziiert werden sollte. Aufgrund der vielen Kontakte zu Lehrenden und Studierenden lag es nahe, die Universität Hamburg anzusprechen, zumal Fritz Saxl als Dozent am Kunsthistorischen Seminar wirkte, aber Max Warburg war grundsätzlich gegen eine Schenkung. Die Konsultationen zogen sich über Monate hin, und als mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise die sozialen Spannungen zunahmen und die Nationalsozialisten an politischem Gewicht gewannen, wuchs unter den deutschen Juden die Besorgnis, die nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 und dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 erheblich zunahm. Mit dem staatlich geduldeten Boykott jüdischer Geschäfte, von Ärzten und Rechtsanwälten sowie der Entfernung aller Nichtarier aus dem Staatsdienst wurde die Lage der deutschen Juden ausgesprochen prekär: Für eine jüdische Bibliothek gab es im »neuen« Deutschland sicherlich keinen Platz mehr.

Die Emigration der KBW

In Beratungen zwischen den Mitarbeitern und dem von Max Warburg geleiteten Kuratorium der KBW beschloss man grundsätzlich die Emigration, wobei zunächst die Niederlande und Palästina in Betracht kamen. Am geeignetsten erschien dem Gremium allerdings England, und so reiste im Mai 1933 ein führender Mitarbeiter, der dort über private Kontakte zu akademischen Kreisen verfügte, nach London, um eine Übersiedlung konkret vorzubereiten.

Ihm gelang es in relativ kurzer Zeit, einflussreiche Persönlichkeiten und renommierte Gelehrte Großbritanniens anzusprechen und sie von den Vorteilen zu überzeugen, die sich aus der Ansiedlung einer umfangreichen kunstwissenschaftlichen Bibliothek für die universitäre Forschung im Lande ergeben würde. Von entscheidender Bedeutung waren natürlich entsprechende finanzielle Zusagen des amerikanischen Zweigs der Familie Warburg.

Als sich konkrete Vereinbarungen mit der Universität London abzeichneten, begann die Suche nach einem geeigneten Quartier für die Bibliothek, das schließlich im Thames House gefunden wurde, einem Bürogebäude unweit der Houses of Parliament. 

 
»In Beratungen zwischen den Mitarbeitern und dem  Kuratorium der KBW beschloss man die Emigration, wobei zunächst die Niederlande und Palästina in Betracht kamen.«

 

Als dann staatliche Stellen in Hamburg der Familie Warburg signalisierten, dass sie die Verlegung der Bibliothek stillschweigend dulden würden – gegenüber der NS-Kultusbehörde gab man den Umzug offiziell als dreijährige Leihaktion aus –, verpackte man die gesamte Kollektion einschließlich der Regale in Kisten, die Mitte Dezember 1933 auf zwei Frachtern nach London verschifft wurden, begleitet von einigen der leitenden Mitarbeitern, die mit ihren Familien auch nach London übersiedelten. Im Frühjahr 1934 öffnete sie als »Warburg Institute« erstmals ihre Tore für Besucher.

Schon nach wenigen Jahren wurde offenkundig, dass die von Fritz Saxl geleitete Bibliothek mit ihrer Kollektion an Büchern und entsprechendem Bildmaterial, gemeinsam mit dem kunstwissenschaftlichen Courtauld Institute of Art der Universität London, entscheidend dazu beitrug, dem Fach Kunstgeschichte zu wissenschaftlicher Anerkennung in Großbritannien zu verhelfen. Eine Breitenwirkung wurde zudem mit Vorträgen sowie mit Beiträgen renommierter Fachvertreter im »Journal of the Warburg Institute« erreicht. 

 
»Das Warburg Institute in London genießt heute internationales Renommee und ist eingebunden in Lehr- und Forschungsaktivitäten.«

 

Die Vereinbarung mit der Universität London, die zunächst auf drei Jahre begrenzt war, wurde 1936 um sieben Jahre verlängert, verbunden mit der Unterbringung in Räumen der Universität sowie einer moderaten jährlichen Fördersumme.

1938 wurde in Hamburg die Warburg-Bank, schon zuvor in ihren Finanzgeschäften beeinträchtigt durch die gezielt betriebene Abwendung vieler Privat- und Unternehmenskunden, von der Reichsregierung zur Aufgabe ihrer Geschäftstätigkeit aufgefordert, was den Firmenchef Max Warburg veranlasste, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren.

Als 1943 alle die Bibliothek betreffenden Vereinbarungen mit der Universität London ausliefen, hatte sich dank der vielen Aktivitäten ihr Status soweit gefestigt, dass man das Angebot unterbreitete, in Zukunft für den Unterhalt der Institution aufzukommen. Daraufhin übergab die Familie 1944 das Warburg Institute mit einer Schenkungsvereinbarung an die Universität London.

Eine Bibliothek mit internationalem Renommee

Im Frühjahr 1958 zog die Bibliothek mit ihren 130.000 Bänden an den Woburn Square im Stadtteil Bloomsbury, nur wenige Schritte entfernt vom British Museum und zudem im Herzen des Universitätsviertels. Damit war sie für Lehrende wie Studierende besser erreichbar und konnte ihre Stärken als Zentrum interdisziplinärer Forschung in den Geisteswissenschaften besser zur Geltung bringen.

Mit ihrer ersten Wirkungsstätte in Hamburg unterhält das Londoner Institute inzwischen regen Kontakt. Das Gebäude der KBW an der Alster, während des Dritten Reichs vom Staat eingezogen, diente nach Kriegsende verschiedenen Unternehmen als Firmensitz, darunter der Neuen Deutschen Wochenschau-Gesellschaft, die dort die erste Tagesschau produzierte.

Der Bau wurde 1983 unter Denkmalschutz gestellt, ein Jahrzehnt später vom Staat erworben, renoviert und 1995 der Warburg-Stiftung übergeben. Unter dem Namen »Warburg-Haus« wird es, als Einrichtung der Universität Hamburg, als interdisziplinäres Forum für Kunst- und Kulturwissenschaft geführt und staatlich gefördert. Mit dem Londoner Institute kooperiert es bei mehreren Forschungs- und Editionsprojekten.

Das Warburg Institute in London genießt heute internationales Renommee und ist eingebunden in Lehr- und Forschungsaktivitäten, Veranstaltungen und Publikationsprogramme. Seine Bibliothek mit circa 360.000 Bänden und umfangreicher Foto- und Diasammlung verwahrt die weltweit größte Kollektion an Studien zur Renaissance und zur Geschichte der klassischen Tradition.

Anerkennung und Förderung erfährt sie weltweit, was ihr vor einigen Jahren dazu verhalf, ihre administrative Unabhängigkeit innerhalb der Londoner Universität zu bewahren, denn 2010 hatte deren Verwaltung beschlossen, in ihrem Bemühen um Synergieeffekte die organisatorischen Strukturen zu zentralisieren. Die Pläne sahen vor, ihre Bestände in die Kollektion der Universitätsbibliothek im Senate House einzugliedern. Aber die vom Warburg Institute initiierte Protestaktion stieß weltweit in Forscherkreisen auf breite Resonanz, sodass die Verwaltung von solchen Plänen absah.

Heute preist die Londoner Universität das Warburg Institute als eines der führenden kulturellen Forschungszentren und finanziert ihr ein passenderweise »Warburg Renaissance« getauftes Erweiterungs- und Renovierungsprogramm, das mit rund 14 Millionen Pfund beziffert wird. Die Baumaßnahme soll noch in diesem Herbst beginnen, um das Gebäude und seine Bibliothek gemäß den Ansprüchen der heutigen wie künftigen Nutzerschaft zu gestalten.

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