Neutralität in Berufsethik und Berufsalltag

Eine BID-Veranstaltungsreihe beleuchtet die Herausforderungen der Neutralität im Bibliothekswesen.
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Unter dem Titel »Berufsethik in der Praxis« startete der Dachverband »Bibliothek & Information Deutschland« (BID) eine neue Veranstaltungsreihe mit Präsenz- wie auch Onlineveranstaltungen. Ziel ist es, berufsethische Werte zu diskutieren und herauszuarbeiten, um Mitarbeitenden in Bibliotheken Orientierungshilfen bei alltäglichen Dilemma-Situationen und berufsethischen Fragestellungen zu bieten. Themen wie Meinungs- und Informationsfreiheit, Chancengerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit stehen im Fokus. Diese Werte sind für das Berufsfeld von zentraler Bedeutung. Im Berufsalltag tauchen rund um diese Werte immer wieder ethische Fragen und Dilemmata auf, die Unsicherheiten bei den Mitarbeitenden hervorrufen.

Die Online-Veranstaltung »Neutralität« im April 2024 widmete sich dem viel diskutierten Thema Neutralität. Was bedeutet Neutralität im berufsethischen Kontext? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Neutralität und dem Engagement für demokratische Grundrechte? Inwieweit ist Neutralität im Berufsalltag relevant und welche Rolle spielt sie in Zeiten sozialer Spaltung und globaler Krisen? Diese und weitere Fragen sollten bei der Veranstaltung diskutiert werden, um den Teilnehmenden eine fundierte Grundlage für den professionellen Umgang mit ethischen Herausforderungen zu bieten. Begrüßt wurden die rund 80 Teilnehmenden von Sabine Homilius, Präsidentin von BID.



In einem Impulsvortrag von Ulla Wimmer, HU Berlin, und Antonia Hein, HAW Hamburg, wurden die verfassungs- sowie beamten- bzw. dienstrechtlichen Grundlagen des Neutralitätsgebots skizziert. Ziel war, ein Verständnis für verschiedene Facetten von Neutralität zu erlangen sowie für die Handlungsspielräume, die Mitarbeitende in diesem Zusammenhang haben. Konkrete Empfehlungen oder klare Ja/Nein-Antworten auf die Frage »Sind Bibliotheken neutral?« waren nicht intendiert.

Ein demokratisches Dilemma

Zunächst gab Ulla Wimmer einen historischen Abriss. Neutralität spielt in Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland bereits seit 120 Jahren eine Rolle, da diese den Anspruch haben, offen für alle Menschen zu sein – unabhängig von politischer, religiöser, weltanschaulicher und/oder sozialer Zugehörigkeit.1 Lediglich unter totalitären Regimen – dem Nationalsozialismus und im Sozialismus der DDR – spielte Neutralität keine Rolle.2 In Demokratien ist das Dilemma der Neutralität eng mit dem »demokratischen Dilemma« verbunden: Ein Staat will einerseits offen sein für alle politischen Richtungen, aber gleichzeitig antidemokratische Richtungen beschränken, damit diese Offenheit bestehen bleiben kann.3 Gleichzeitig ringen Öffentliche Bibliotheken mit dem Neutralitätsdilemma: Auch sie wollen allen Menschen und Weltanschauungen offen stehen, aber sich auch für die Rechte von benachteiligten Gruppen einsetzen.4

 
»Neutralität spielt in Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland bereits seit 120 Jahren eine Rolle, da diese den Anspruch haben, offen für alle Menschen zu sein – unabhängig von  politischer, religiöser, weltanschaulicher und/oder sozialer Zugehörigkeit.«

 

Dieser Konflikt zwischen Offenheit und Neutralität begegnet uns in nahezu allen Bereichen: vom Bestandsmanagement, über Kooperationen, Programmarbeit bis hin zum Sponsoring. Da dieses Dilemma stets präsent ist, wird Neutralität hitzig diskutiert. Einerseits wird ein positives Idealbild diskutiert, bei dem Bibliotheksmitarbeitende ihre persönlichen Vorurteile vollständig ablegen und ohne äußeren Einfluss allen Gruppen und Weltanschauungen gegenüber offen und tolerant sind. Andererseits halten Kritiker/-innen ein negatives Zerrbild der Neutralität hoch, bei der Bibliotheksmitarbeitende sich aus Konflikten heraushalten, keine Haltung zeigen und somit bestehende Ungerechtigkeiten verstärken. Beide Extreme sind unrealistisch. Dennoch können die positiven Werte als Ideal angestrebt werden. Weder sollten Bibliotheksmitarbeitende den extremen Stimmen von rechten Akteurinnen und Akteuren nachgeben, die unter dem Vorwand der Neutralität ihr Handeln einschränken wollen,5 noch sollten sie die vereinfachte Erklärung von Kritiker/-innen akzeptieren, dass Neutralität grundsätzlich machterhaltend sei.

Warum gibt es das Neutralitätsgebot?

Den normativen Rahmen des Neutralitätsgebots setzen in Deutschland die Verfassung und das Verwaltungsrecht. Das Demokratieprinzip gründet auf Volkssouveränität und beschreibt, dass Machtverhältnisse von Staat und Gesellschaft strikt voneinander getrennt werden sollen.6 Macht soll stets von der Bevölkerung ausgehen. Das Neutralitätsgebot bezieht sich dabei auf staatliche Institutionen und ihre Funktionsträger/-innen. Es soll verhindern, dass sie ihre Macht nutzen, um Eigeninteressen zu verfolgen.7 Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Entscheidungen stützen sich bei der Bewertung des Neutralitätsgebots auf die Grundrechte der Gleichheit (Art. 3 GG), der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), das Prinzip der Chancengleichheit von Parteien während des Wahlkampfes (Art. 21 GG) und auf Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG), der die Gewissensfreiheit von Abgeordneten im Bundestag regelt.8



Verwaltungsrechtliche Vorgaben zum Neutralitätsgebot sind in Deutschland in Paragraph 60 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) und in Artikel 33 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) geregelt.9 Beide Rechtsnormen bringen zum Ausdruck, dass Beamtinnen und Beamte dem Gleichheitsprinzip der Bevölkerung verpflichtet sind und nicht politischen Parteien, sozialen Bewegungen oder gesellschaftlichen Gruppierungen, die politische Interessen artikulieren.10 Dabei nimmt das Neutralitätsprinzip vor allem staatliche Institutionen und ihre Funktionsträger/-innen in den Blick.11 Payandeh ordnet ein, dass staatliche Funktionsträger/-innen, die aufgrund ihrer politischen Positionen in ein Amt gewählt oder ernannt werden, nicht dem Neutralitätsgebot unterliegen. Für Beamtinnen und Beamte sowie für Angestellte im öffentlichen Dienst, die verwaltende Tätigkeiten ausführen, gelte dies hingegen nicht.12 Daraus kann abgeleitet werden, dass Bibliotheken, die weitgehend öffentlich finanziert werden, dem Neutralitätsgebot unterliegen, weil sie Funktionen für die Gesellschaft übernehmen und dem Demokratieprinzip unterliegen. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, die »Hände in den Schoß zu legen«, sondern für demokratische Werte einzutreten.

Facetten von Neutralität

Um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Neutralitätsbegriff zu ermöglichen, zeigte Antonia Hein auf der Grundlage der Studie von Hennicke Facetten von Neutralität auf.13 Unter Rechtfertigungsneutralität versteht man Handlungen, bei denen von den Motiven und Theorien des Guten der Betroffenen möglichst unabhängig agiert wird. Es handelt es sich also um die Intention, sich »herauszuhalten«. Dies wird auch als die Schweiz-Intuition bezeichnet.14 Eng damit verwandt ist die exklusive Neutralität, also der Anspruch, sämtliche religiöse, weltanschauliche, politische und/oder soziale Kontroversen auszuschließen.15 Viel zitiertes Beispiel dafür ist der Eurovision Song Contest. Das Beispiel zeigt allerdings auch die Schwierigkeit, die bei dem Ansatz auftreten kann: Allein die Entscheidung, was zu politisch oder kontrovers ist, kann zu Konflikten führen und alles andere als neutral sein. Eine andere Form von Neutralität ist die Effektneutralität. Dabei wird angestrebt, durch Eingreifen möglichst gleiche Bedingungen für die Verwirklichung der Theorien des Guten beider Parteien zu schaffen. Sie wird auch als Schiedsrichterintuition bezeichnet.16 Ähnlich funktioniert die Inklusive Neutralität, die versucht, allen Sichtweisen gleichermaßen Raum zu geben.



Ein Beispiel sind Talkshows, zu denen Vertreter/-innen aller politischen Parteien geladen sind.17 Kritisiert werden kann an Inklusiver Neutralität, dass antidemokratisches Gedankengut und Desinformationen verbreitet werden können. Eine alternative Definition dafür ist die Weltanschauliche Neutralität, die das Prinzip verfolgt, dass der Staat keine »Konzeption des guten Lebens« höherwertig bewerten darf, wohl aber aus Gerechtigkeitsgründen: »Die zulässigen Konzeptionen des guten Lebens müssen [...] die Grenzen der politischen Gerechtigkeit beachten.«18 Auch hier stellt sich die Frage: Wer entscheidet, wann eine solche Grenze erreicht wird, und nach welchen Kriterien? Es lässt sich also sagen, dass es nicht die eine Neutralität gibt, sondern verschiedene Ansätze, die nach eigenem Ermessen in verschiedenen Situationen eingesetzt werden. Alle Formen der Neutralität sind Ideale, die lediglich angestrebt werden können.19

 
»Verbände – vorwiegend in öffentlicher Trägerschaft – legen großen Wert auf Neutralität, um die Integrität ihrer Mitglieder und die Qualität ihrer Arbeit zu gewährleisten. Vielfach rekurriert der Bezug zu Neutralität dabei eher auf dem Gleichbehandlungs- als auf dem Neutralitätsgrundsatz.«

 

Die Handlungsoptionen, bei denen uns Neutralität in Bibliotheken begegnet, sind nahezu endlos. Mitarbeitende können/sollen/müssen über den Bestand entscheiden, Veranstaltungen planen, als Außenstehende in Konflikten moderieren, als Konfliktparteien agieren. Ebenso vielfältig sind Konflikte in der Gesellschaft: von der Cannabislegalisierung über Nachhaltigkeit und kulturelle Vielfalt bis hin zu politischen Wahlen. Insbesondere letztgenanntes Thema ist auch juristisch interessant, da hier das Neutralitätsgebot greift. Für Beschäftigte gilt dies nur, wenn man im Rahmen der Anstellung handelt, nicht aber als Privatperson. Zusätzlich gilt, dass man als Funktionsträger/-in der öffentlichen Verwaltung zu politischer »Mäßigung« verpflichtet ist – sowohl im Amt als auch privat. Grundsätzlich bedeutet das Neutralitätsprinzip nicht, wertfrei zu sein. Beschäftigte im öffentlichen Dienst sind den Werten des Grundgesetzes verpflichtet, allen voran der Menschenwürde. Ist diese tangiert, zum Beispiel durch Diskriminierung, sind sie verpflichtet, einzugreifen. Als Bildungseinrichtungen können sich Bibliotheken auch an dem Beutelsbacher Konsens orientieren, der drei Elemente umfasst: das Überwältigungsverbot (den Lernenden nicht die eigenen Ideen aufdrängen), das Kontroversitätsgebot (kontrovers darstellen, was kontrovers diskutiert wird) und die Orientierung an der Situation der Lernenden (sie zu einem eigenen Urteil befähigen).20

Neutralität – Blick über den Tellerrand

Ute Engelkenmeier stellt in dem folgenden Impulsvortrag dar, wo Neutralität im Berufsalltag eine Rolle spielt, ob und wie Neutralität gelebt werden kann und mit welchen Strategien demokratische Werte bei der Berufsausübung geschützt werden können. (Berufs-)Verbände spielen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Durchsetzung ethischer Grundsätze. Verbände – vorwiegend in öffentlicher Trägerschaft – legen großen Wert auf Neutralität, um die Integrität ihrer Mitglieder und die Qualität ihrer Arbeit zu gewährleisten. Vielfach rekurriert der Bezug zu Neutralität dabei eher auf dem Gleichbehandlungs- als auf dem Neutralitätsgrundsatz. Bekannte ethische Grundlage von Verbänden sind zum Beispiel die Bundesärztekammer in Deutschland und ihre Ethikkommission, die ethische Leitlinien für den ärztlichen Berufsstand und ihre Tätigkeiten vorgibt.21 Andere Beispiele sind ethische Richtlinien des Deutschen Anwaltvereins22 oder von Wissenschaftseinrichtungen wie der Max-Planck-Gesellschaft.23 Besonders bekannt ist der Pressekodex24 für Medienschaffende, formuliert durch den Deutschen Presserat. Diese Richtlinien dienen unter anderem dazu, Vorurteile gegenüber Minderheiten zu vermeiden und die Berichterstattung neutral zu gestalten. Wirtschaftsverbände haben im Rahmen ihrer Berufsethik verschiedene Leitlinien unternehmerischen Handelns formuliert.



»Unter Corporate Governance wird der rechtliche und faktische Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens verstanden. Compliance, also das Postulat, Regeln zu befolgen und nach ethischen Maßstäben zu handeln, ist ein zentraler und unverzichtbarer Bestandteil einer guten Corporate Governance.«25 Sieveking betont, dass nachhaltiges Ethikmanagement einen Grundkonsens brauche, dieser müsse durch klare, »für alle Beschäftigten gleichermaßen verbindliche Verhaltensregeln und Handlungsmaßstäbe gestützt werden. Diese sind im Sinne eines »ethikorientierten Controllings« zielgerichtet aufeinander abgestimmt und systematisch in alle Entscheidungsprozesse und Strukturen zu implementieren.«26 Grundlage für Unternehmen bilden freiwillig übernommene Regeln wie beispielsweise die des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK).27 Ein Beispiel aus Nicht-Regierungsorganisationen findet sich beim Roten Kreuz/Roten Halbmond mit Werten wie Unparteilichkeit und Neutralität (keine Teilnahme an Feindseligkeiten oder politischen, rassischen, religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen).28 Eine sehr deutliche Positionierung im Bildungsbereich findet man aktuell bei der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) »Demokratie braucht politische Bildung, keine Neutralität!«29

 
»Die Library Bill of Rights der American Library Association beschreibt in der aktuellen Fassung unter anderem, dass Bibliotheken Materialien und Informationen bereitstellen sollen, die alle Standpunkte zu aktuellen und historischen Themen darstellen.«

 

Im »IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers«, der 2012 verabschiedet wurde, wird als gesonderter Punkt »neutrality, personal integrity and professional skills« beschrieben, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare sowie andere Informationsmitarbeitende strikt zur Neutralität und einer unvoreingenommene Haltung in Bezug auf Sammlung, Zugang und Service verpflichtet sind. Ferner sollen Bibliothekar/-innen und Informationsmitarbeitende unterscheiden zwischen ihren persönlichen Überzeugungen und beruflichen Pflichten. Private Interessen und Überzeugungen sollen nicht auf Kosten der Neutralität »gefördert werden«. Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung am Arbeitsplatz, sofern der Grundsatz der Neutralität gegenüber den Benutzenden nicht verletzt wird.30

Die Library Bill of Rights der American Library Association beschreibt in der aktuellen Fassung unter anderem dass Bibliotheken Materialien und Informationen bereitstellen sollen, die alle Standpunkte zu aktuellen und historischen Themen darstellen und Materialien nicht aufgrund von politischer oder doktrinärer Ablehnung verboten oder entfernt werden sollten. Daneben sollten sich Bibliotheken gegen Zensur wenden, um ihrer Verantwortung für Information und Aufklärung gerecht zu werden und mit allen Personen und Gruppen zusammenarbeiten, die sich gegen die Einschränkung der freien Meinungsäußerung und des freien Zugangs zu Ideen einsetzen.31

 
»Die Frage, ob Mitarbeitende neutral sein können, berührt grundlegende Diskurse in bibliotheksspezifischer Ethik und vor allen in der Praxis.«

 

Die ethischen Grundsätze des Dachverbands »Bibliothek & Information Deutschland« (BID) benennt nicht explizit Werte wie Neutralität, sondern bezieht sich auf Leitwerte wie die Menschenrechte und stellt die Rolle von Bibliotheken als Institutionen der gelebten Demokratie dar. Der Einsatz für freie Meinungsbildung, ein ungehinderter Zugang zu Informationen und die Ablehnung von Zensur werden ebenso als grundlegende Werte beschrieben wie die Gleichbehandlung von Personen. Betont wird, dass eine »fachliche und inhaltliche Unabhängigkeit der bibliothekarischen Arbeit von politisch motivierter oder anderer sachfremder Einflussnahme« unabdinglich ist.32

Deutlicher positioniert sich der schweizerische Berufsverband Bibliosuisse in seinem Ethikkodex. Festgestellt wird, dass Mitarbeitende in Bibliotheken und Dokumentationsstellen ein »[…] Recht auf freie Meinungsäusserung am Arbeitsplatz [haben], solange dies nicht gegen den Grundsatz der beruflichen Neutralität gegenüber ihren Nutzer*innen verstösst«.33

Die Frage, ob Mitarbeitende neutral sein können, berührt grundlegende Diskurse in bibliotheksspezifischer Ethik und vor allen in der Praxis. Folgende Aspekte stehen dabei im Blick: 

  1. Ideale vs. Praxis: Theoretisch sollten Mitarbeitende in ihrer beruflichen Rolle neutral bleiben, um einen freien Zugang zu Informationen für alle zu gewährleisten. In der Praxis kann es jedoch schwierig sein, persönliche Überzeugungen vollständig von beruflichen Entscheidungen zu trennen. Zum Beispiel ist jede Auswahl oder Kuratierung von Materialien bewusst oder unbewusst von persönlichen Überzeugungen beeinflusst.
  2. Neutralität vs. soziale Verantwortung: Mitarbeitende stehen oft vor der Herausforderung, zwischen ihrer Verpflichtung zur Neutralität und dem Wunsch oder dem Gefühl der Verantwortung, soziale oder politische Themen anzusprechen, zu balancieren. In einigen Fällen kann das Bemühen um Neutralität in Konflikt mit der Notwendigkeit stehen, Diskriminierung zu bekämpfen, Diversität zu fördern und Gerechtigkeit zu unterstützen.
  3. Rolle der Bibliotheken in der Gesellschaft: Im Kontext von Bibliotheken in ihrer Rolle als gesellschaftliche Orte ist es manchmal schwierig, eine strikte politische Neutralität aufrechtzuerhalten, insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen oder politischer Konflikte.
  4. Auswahl und Vielfalt der Sammlungen: Mitarbeitende wahren Neutralität, indem sie eine breite und vielfältige Sammlung von Materialien anbieten, die verschiedene Perspektiven repräsentieren. Dadurch wird den Nutzenden ermöglicht, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Jedoch ist gerade die Literatur- und Informationsauswahl auch von fachlichen Gesichtspunkten geleitet – und vom Etat.
 
»Es bleibt die Aufgabe in unserer Berufswelt, stetig sich um Verständigungs- und Aushandlungsprozesse zu bemühen, insbesondere wenn sich Dilemmata oder Konflikte nicht einfach auflösen lassen.«

 

Ethik schreibt nicht vor, was wie zu tun ist. Ethik schreibt nicht vor, was falsch und was richtig ist, aber Ethik kann den Rahmen bieten und kann verhindern, dass es zu einem bloßen Austausch von Meinungen kommt, sondern dass auf Grundlage von Werten argumentiert wird. Insgesamt ist es eine stetige Herausforderung für Beschäftigte, ein Gleichgewicht zwischen der Aufrechterhaltung professioneller Neutralität und der Anerkennung ihrer sozialen Verantwortung zu finden. Während absolute Neutralität in der Praxis schwer zu erreichen sein mag, ist das Streben danach ein wichtiger Teil der beruflichen Integrität und des Engagements für den freien Zugang zu Informationen. Hennicke arbeitet hier Anforderungen zum Umgang mit Neutralität heraus: Auf individualethischer Ebene geht es darum, seine persönliche Betroffenheit im Konfliktfall zu überwinden und zu einer möglichst objektiven und »gerechten« Entscheidung zu kommen.34 Auf institutioneller Ebene stellt er die Anforderung auf, rechtliche, ethische und fachliche Entscheidungsgrundlagen im Konfliktfall offenzulegen und diese transparent zu kommunizieren.35

Es bleibt die Aufgabe in unserer Berufswelt, stetig sich um Verständigungs- und Aushandlungsprozesse zu bemühen, insbesondere wenn sich Dilemmata oder Konflikte nicht einfach auflösen lassen. Die Aufgabe von (Berufs-)Verbänden liegt hier darin, diese Diskurse aufzuzeigen und Wege zu finden, sich in der Fachcommunity damit auseinanderzusetzen.

Nach den Vorträgen wurde zu unterschiedlichen Aspekten in Breakout-Räumen diskutiert. Die Fragen gingen von »Was tue ich, wenn AfD-Mitglieder die Räume der Bibliothek nutzen möchten?« über »Wie gehe ich mit kritischen Anschaffungsvorschlägen um« bis hin zu »Wie verhalten wir uns, wenn in den Räumen der Bibliothek gebetet wird?« Es zeigte sich, dass der Gesprächsbedarf und Austausch zu diesen und weiteren Themen hoch ist. Die Reihe »Berufsethik in der Praxis« wird nach dem Hands-on-Lab auf der BiblioCon (»Über Werte reden«) in der nächsten Online-Veranstaltung noch mehr Zeit zur Diskussion einplanen. 

Themen-Impulse sowie auch das Interesse, an der Reihe mitzuwirken, nehmen die Kolleginnen und Kollegen gerne per E-Mail auf unter: info@bideutschland.de

Ute Engelkenmeier engagiert sich als Vorsitzende des Bundesvorstands des BIB wie auch im Vorstand des Dachverbandes BID auch zu berufsethischen Fragestellungen. Sie arbeitet an der UB Dortmund.

Antonia Hein studiert Bibliotheks- und Informationsmanagement an der HAW Hamburg und schreibt ihre Bachelorarbeit über Neutralität und Diversität in Bibliotheken. 

Lisa Pohl ist Bibliothekarische Direktorin und Prokuristin bei der ekz.bibliotheksservice GmbH.

Frauke Schade hat zum Thema Institutionenethik als Verantwortungsethik promoviert und unterrichtet an der HAW Hamburg Informationsethik und Public Relations.

1 Ulla Wimmer: Neutralität als konstitutives Dilemma der Öffentlichen Bibliothek. In: Annette Fichtner et al. [Hrsg.] Praxishandbuch Medien an den Rändern. Umgang mit umstrittenen Werken in Bibliotheken. Berlin, Boston: De Gruyter, 2024, S. 59-69 
2 Ebd. S. 63 ; Leila Barchi: Zur Idee der Neutralität in der Geschichte Öffentlicher Bibliotheken in Deutschland. Potsdam: Fachhochschule Potsdam, 2021. Verfügbar unter https://opus4.kobv.de/opus4-fhpotsdam/frontdoor/index/index/docId/2534 
3 Wimmer 2024, S. 59, 60
4 Ebd. S. 64
5 Jonas Deyda: Weaponized Neutrality. Wie der Sächsische Rechnungshof versucht, die Zivilgesellschaft an die Kandare zu nehmen. In: Verfassungsblog, 14.12.2023. Verfügbar unter https://verfassungsblog.de/weaponized-neutrality/
6 Klaus Schubert, Martina Klein: Demokratie. In: Das Politiklexikon. Bonn: Dietz, 2020. Verfügbar unter https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17321/demokratie/ 
7 Mehrdad Payandeh: Die Neutralitätspflicht staatlicher Amtsträger im öffentlichen Meinungskampf. Dogmatische Systembildung auf verfassungsrechtlich zweifelhafter Grundlage. In: Der Staat, 55 (2016) 4, S. 519–550
8 Ebd. S. 521
9 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG): Grundpflichten (§ 33). Verfügbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/beamtstg/__33.html , Bundesbeamtengesetz (BBG): § 60 Beamtengesetz. Verfügbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/bbg_2009/__60.html 
10 Payandeh 2015, S. 544
11 Ebd. S. 549
12 Ebd. S. 529
13 Steffen Hennicke: Neutralität in Bibliotheken. Versuch einer Begriffsschärfung. Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft; 479. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, 2021. https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/24028/BHR479_Hennicke.pdf 
14 Ebd. S. 31, 32
15 Ebd. S. 34, 35
16 Ebd. S. 32, 33
17 Ebd., S. 34, 35
18 Robin Celikates, Stefan Gosepath: Grundkurs Philosophie Politische Philosophie. Stuttgart: Reclam, 2013
19 Hennicke 2021, S. 35, 36
20 Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb): Beutelsbacher Konsens. Verfügbar unter https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens 
21 https://www.bundesaerztekammer.de/themen/medizin-und-ethik
22 https://anwaltverein.de
23 https://www.mpg.de/199426/forschungsfreiheitrisiken.pdf
24 https://www.presserat.de/pressekodex.html
25 Sieveking, Nikolaus (2018): Grundlagen und Aspekte ethischer Verbandführung. In: Verbändereport H. 3, S. 18-23
26 Ebd.
27 https://www.dcgk.de/de
28 https://www.drk.de/das-drk/auftrag-ziele-aufgaben-und-selbstverstaendnis-des-drk/die-grundsaetze-des-roten-kreuzes-und-roten-halbmondes/
29 https://dvpb.de/nicht-neutral/
30 https://www.ifla.org/news/just-released-ifla-code-of-ethics-for-librarians-and-other-information-workers-full-version/
31 https://www.ala.org/advocacy/intfreedom/librarybill
32 https://bideutschland.de/berufsethik/
33 Bibliosuisse: Ethikkodex für alle Mitarbeitenden von Bibliotheken und Dokumentationsstellen in der Schweiz. Aarau: Bibliosuisse, 2021. Verfügbar unter https://www.bibliosuisse.ch/mitglieder/ethikkodex 
34 Hennicke 2021, S. 48
35 Ebd. S. 49

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