Der Weg zu diskriminierungskritischer Programmarbeit

Ein Werkstattbericht aus der Münchner Stadtbibliothek zeigt, wo die Fallstricke bei diskriminierungskritischer Programmarbeit liegen.

Die Auseinandersetzung mit Diskriminierung und anderen gesellschaftlichen Themen gehört zum Alltag von Bibliotheken. Sie sind den demokratischen Grundprinzipien verpflichtet, allem voran dem Grundgesetz. Zu den Internationalen Wochen gegen Rassismus, den Pride Weeks, anlässlich von Gedenktagen oder im Rahmen von Schulklassenworkshops fordern wir durch Veranstaltung die Auseinandersetzung mit diesen Themen ein. Aber sind diese Formate auch automatisch diskriminierungskritisch? Wie diskriminierungskritisch ist eigentlich die gängige Programmarbeit? Wir haben uns an das Thema herangewagt – und gelernt, wo die Fallstricke liegen. 

Migrantische Perspektiven auf unser Programm

Den Startpunkt für unsere Annäherung setzten wir mit einer Fokusgruppe, in der wir Vertreter/-innen von migrantischen Vereinen einluden, unsere Programmhefte zu analysieren und uns Feedback zu geben. In dem Fokusgespräch gab es Lob für unsere Veranstaltungen, es traten aber auch deutlich die Leerstellen hervor, etwa in Form von fehlenden Perspektiven. 

Uns wurde bewusst, dass wir zwar Programm für Zugewanderte anbieten – seien es Sprachcafés, Veranstaltungen zum Internationalen Tag der Muttersprache oder fremdsprachige Lesungen. Jenseits davon gab es bei uns bis dahin jedoch wenige Formate, die sich inhaltlich mit postmigrantischen Themen jenseits von Zuwanderung und Integration befassten. Wir stellten uns also die Frage, wie ein solches Programm aussehen könnte. 

Um eine Antwort zu bekommen, bildeten wir uns anhand der Online-Qualifizierung Erfolgreich rassismuskritisch veranstalten der Autorin, Musikerin und Aktivistin Noah Sow fort. In neun Modulen analysiert sie darin problematische Strukturen und Dynamiken der gängigen Veranstaltungsarbeit. Und zwar bezogen auf die Planung, die Durchführung, die Struktur, das Thema, den Titel bis hin zur Vertragsschließung und Dokumentation. 

Was wir vor allem lernten: Die Frage, wie wir Themen für bestimmte Zielgruppen setzen, ist der falsche Ansatz. Denn diskriminierungskritisch veranstalten heißt vor allem Räume zu öffnen. Räume, die von den jeweiligen Communitys bespielt werden. Und es bedeutet auch Safer Spaces zu ermöglichen, in denen marginalisierte Personen unter sich sind. 

Wir lernten auch, dass Veranstaltungen als Beitrag zum Abbau von Rassismus und anderen Formen von Diskriminierung sich in der Regel an die Mehrheitsgesellschaft richten, also an diejenigen, die die diskriminierende Struktur aufrechterhalten. Wenig Mittel werden hingegen in den Ausgleich für Betroffene gesteckt. Für Empowerment-Formate gibt es kaum Fördermittel oder Programm von öffentlichen Stellen. 

Wer hat das Wort und wer bekommt den Raum?

Die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Qualifizierung zeigte uns: Es ist wichtig, dass das erste und das letzte Wort bei der jeweiligen Community bleibt. Auch Kontroversen auf dem Podium sind kritisch zu betrachten. In der Veranstaltungsarbeit ein beliebtes Mittel, um Spannung zu erzeugen, sind sie vor allem Inszenierungen, die gängige Narrative verstärken. Genauso sind Publikumsgespräche oft wenig Hilfreich, denn in vielen Fällen wird die Redezeit dazu genutzt, mehrheitsgesellschaftliche Deutungen einzubringen und marginalisierte Perspektiven zu relativieren. Stattdessen braucht es Räume, um marginalisierten Stimmen Reichweite zu geben.

In der Folge reflektierten wir unser Programm, diskutierten viel und testeten neue Formate. Dabei bezogen wir auch Veranstaltungen zum Thema Behinderung, Senioren und Seniorinnen oder queeres Programm in unsere Überlegungen mit ein. Denn die zugrundeliegende diskriminierende Struktur in der Veranstaltungstradition ist identisch. Die gewonnenen Erkenntnisse hielten wir schließlich in unseren Programmrichtlinien zu diskriminierungskritischer Veranstaltungsarbeit fest. 

Wichtig ist, Veranstaltungstraditionen zu entlernen

Jetzt, wo wir sensibler für Machtasymmetrien in der Programmarbeit geworden sind, fällt uns auf, wie schwierig die Umsetzung diskriminierungskritischer Veranstaltungen ist. Oftmals wollen Kooperationspartner/-innen Programm mit uns durchführen, das wir so eigentlich nicht mehr anbieten wollen. Beispielsweise weil lediglich über bestimmte Personengruppen gesprochen wird, statt mit ihnen. Oder weil Fragen aus einer mehrheitsgesellschaftlichen Perspektive gestellt werden und wenig Spielraum für marginalisierte Narrative lassen. 

Ein Beispiel dafür war eine 2022 in unseren Räumen präsentierte multimediale Ausstellung, bei der Schüler/-innen mit marginalisierten Personen über deren Ausgrenzungserfahrungen sprachen und über Alltagsdiskriminierung reflektierten. Die so entstandenen Videos mit einer behinderten Person, einem Roma und einer Drag Queen wurden bei uns in der Bibliothek gezeigt und durch Informationstafeln flankiert. Für die Schüler/-innen war der Austausch mit den Interviewpartnern und Interviewpartnerinnen sicher eine Bereicherung. Schwierig fanden wir jedoch den Titel der Ausstellung Triff dein Vorurteil, der den interviewten Personen die Verantwortung für den Abbau von Vorurteilen über sie zuschiebt, sie problematisiert und verdinglicht. In den Videos wurden sie außerdem allein auf ihre Besonderheit reduziert. 

Für viele Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft bietet diese Art von Ausstellung sicher Anknüpfungspunkte und bringt sie zum Nachdenken. Auch wir fanden sie zu Beginn toll und wollten sie bei uns präsentieren. Erst nach und nach wurde uns bewusst, wo sie schwierigen Narrativen folgt. Wie wäre es denn, wenn wir uns als Gesellschaft von diesem defizitären Blick lösen würden? Von dem Gegensatz zwischen wir, die (vermeintlich) Normalen sowie den anderen und stattdessen neue Narrative zuließen? 

Uns ist inzwischen bewusst geworden, wie tief diskriminierende Strukturen in der gängigen Veranstaltungsarbeit verankert sind. Denn auch marginalisierte Gruppen beteiligen sich immer wieder oder gestalten Programm, das einer mehrheitsgesellschaftlichen Logik folgt. Das ist auch klar, denn die Geldtöpfe und Förderstrukturen werden durch die Mehrheitsgesellschaft eingerichtet. Es ist wie bei einer Zwiebel: Hat man eine Schale abgetragen, kommt die nächste hervor. 

Den kompletten Artikel können Sie in der aktuellen BuB-Ausgabe 10/2025 lesen: als Printausgabe oder in der App.

Sarah Hergenröther ist Nahostwissenschaftlerin, Diversity Beraterin und Mediatorin. Im Rahmen des 360°-Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes hat sie von 2019 bis 2025 den Change Prozess der Münchner Stadtbibliothek hin zu mehr Diversität moderiert.

Judith Stumptner leitet die Programm- und Öffentlichkeitsarbeit der Münchner Stadtbibliothek seit März 2020. Davor verantwortete sie das Kultur- und Bildungsreferat der Evangelischen Akademie Tutzing, betreute den Auslandsbereich der Leipziger Buchmesse und baute als Robert Bosch Kulturmanagerin das Zentrum Gedankendach in Chernivtsi (Ukraine) auf. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Krakauer Jagiellonien-Universität studierte sie Buchwissenschaft, Publizistik und Theater- und Medienwissenschaft.

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