Lesen mit Hund

Tiergestützte Angebote erfreuen sich großer Beliebtheit – und erhöhen die Chance auf eine neue Zusammenarbeit mit Schulen.
Entspannte Atmosphäre beim Vorlesen: »Lesen mit Hund« basiert auf der Idee, dass ein Hund nicht bewertet oder korrigiert. Fotos: Stadtbücherei Esslingen

Tiergestützte Angebote sind kein neues Konzept. Ob als Leseförderangebot in Öffentlichen Bibliotheken, im Altersheim oder in Gefängnissen: Die aus den USA stammende Idee »Lesen mit Hund« sieht vor, Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen nicht richtig lesen können, die Angst vor dem Lesen zu nehmen. Dabei steigert sich bei den Kindern nicht nur die Motivation, sie gewinnen auch an Selbstbewusstsein und das Stresslevel wird reduziert.

Von der Idee bis zum Konzept

Die Stadtbücherei Esslingen hat es sich zum Ziel gesetzt, weitere Angebote für Bildungsgerechtigkeit zu entwickeln. Für Kevin Butler gehörte bei seiner Vorstellung als neuer Büchereileiter im Gemeinderat der Stadt Esslingen die Einführung der hundegestützten Leseförderung zu seinen Herzensangelegenheiten und zu den ersten neuen Projekten, die er in neuer Position verwirklichen wollte. Gemeinsam mit Ute Friesch, Mitarbeiterin der Kinder- und Jugendbibliothek und Nadine Schäufele, Bibliothekspädagogin, konnte dieses Angebot knapp zwei Jahre später umgesetzt werden.

Die Integration von Tieren in pädagogische Konzepte ist in den letzten Jahren immer populärer geworden. Besonders die Kombination von Menschen, Tier und Buch, also das sogenannte »Lesen mit Hund«, hat sich als effektive Methode zur Förderung der Lesekompetenz erwiesen. 

Heyer und Beetz (2014), zitieren nach Beetz et al. (2013, S. 161), dass »die Integration eines Hundes über physiologische und psychologische Wirkmechanismen, zum Teil vermittelt über Stressreduktion und die Aktivierung des Oxytocin-System, die individuellen Lernvoraussetzungen einer Schülerin oder eines Schülers fördern sowie den Aufbau lernförderlicher Rahmenbedingungen unterstützen und somit zu einem erfolgreichen Lernergebnis beitragen kann.« Bibliotheken, zentrale Orte der Bildungslandschaft und der Begegnungen, bieten einen sicheren Raum für solche Angebote. Wir wollen in diesem Artikel einen Überblick über die theoretischen Grundlagen, die praktische Umsetzung und die Bedeutung von Leseprogrammen mit Hunden in Bibliotheken geben. 

Welche Vorteile verspricht die Leseförderung mit Hund?

»Lesen mit Hund« basiert auf der Idee, dass ein Hund nicht bewertet oder korrigiert. Die Aufgabe des Hundes ist es, Kindern die Angst und Hemmung vor dem Lesen zu nehmen, ihr Selbstvertrauen zu stärken und sie zum Lesen zu motivieren. Denn nur, wer sich im Lesen regelmäßig übt, kann sich verbessern.

Ein tierischer Zuhörer bringt dabei gegenüber dem Menschen einige nützliche Eigenschaften mit:

 

  • Ein Hund kritisiert nie: Zu wissen, dass der Hund nie über Fehler lacht, die Leseleistung bewertet oder schon ein vorgefertigtes Urteil hat, nimmt den Schülerinnen und Schülern die Angst vor dem Lesen und lässt sie ganz unbefangen und laut vorlesen. Davon profitieren besonders Kinder, die im Unterricht eher schüchtern und zurückhaltend sind. Mit der Zeit entwickeln die Kinder in Lesesituationen immer mehr Selbstbewusstsein, auf das sie dann auch ohne Hund zurückgreifen können.

  • Ein Hund unterbricht das Lesen nicht: Über kleinere Fehler sieht ein Hund großmütig hinweg – dadurch bleiben die Schüler/-innen im Lesefluss und werden durch Verbesserungen nicht ständig herausgerissen.

  • Ein Hund motiviert zum Lesen: Da es in der Vorlesezeit mit dem Hund praktisch keine Misserfolge gibt, entwickeln Kinder, die sonst wenig Freude am Lesen haben – was ja oft auch mit einer mangelnden Lesekompetenz verbunden ist –, leichter Spaß an Büchern und sind motiviert bei der Sache – schließlich wollen sie ihren Zuhörer beim nächsten Mal mit neuen Geschichten und verbesserten Lesefähigkeiten überraschen. Der Hund ist sozusagen ein positiver Verstärker, der das Lesen mit schönen Eindrücken und Erfolgserlebnissen verknüpft.

  • Ein Hund entspannt die Vorlesesituation: Beim Vorlesen können die Kinder den Hund streicheln und seine Nähe spüren, was die Situation zusätzlich positiv beeinflusst. Ohne Anspannung und Stress fällt es den Schülerinnen und Schülern viel leichter, flüssig zu lesen. Die positive Wirkung von Haustieren gegen Stress ist inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen.

Konzept und Ablauf

Aus diesen Grundlagen ist ein Projekt entstanden, das im Kern bereits in vielen Bibliotheken angeboten wird und dennoch ganz individuell auf Esslingen zugeschnitten ist: »Lesen mit Hund« als Einzel- und Gruppenförderangebot. Besonders das Einzelförderangebot wurde nach vielen Kriterien individuell weiterentwickelt: Die Schüler/-innen sollten einen geschützten Raum in der Bibliothek bekommen und das Angebot sollte insbesondere leseschwache Kinder motivieren. Mit der Esslinger Waisenhofschue konnte eine standortnahe Grundschule als Kooperationspartnerin gewonnen werden. Die zuständigen Lehrkräfte zeigten sich sehr schnell von diesem neuen Angebot überzeugt. Sie wählen Schüler/-innen, die leseschwach sind, aus und informieren mittels Elternbrief über das Projekt und den Ablauf, also wie, wann und wo das Lesen mit Hund stattfindet. Bei Interesse der Eltern und der Kinder wird die verbindliche Anmeldung an die Stadtbücherei übermittelt. Es ist stark darauf zu achten, dass die Kinder an allen, das heißt vier Terminen in Folge teilnehmen und keine Ferien oder Feiertage dazwischen liegen. Nur so kann ein guter und nachhaltiger Effekt gewährleistet werden und auch die Planung wird deutlich vereinfacht. 

Bei der Planung ist auch wichtig, dass die Kinder bei allen vier Terminen immer den gleichen Hund treffen. So kann schnell eine vertrauensvolle Bindung entstehen. Jedes Kind bekommt 30 Minuten Lesezeit, dann endet die Session mit einem Stempel in die dafür extra entworfenen Stempelkarten. Nach Abschluss der vier Termine bekommt jedes Kind eine Urkunde, ein kleines Büchlein und ein Foto von seinem persönlichen Lesehund. So bleibt dieses Erlebnis noch lange in Erinnerung.

Als Fortführung und weiteres Leseförderangebot bietet die Stadtbibliothek Esslingen zudem »Lesen mit Hund« im Gruppensetting von sechs bis sieben Kindern an. Dies wird einmal im Monat als offenes Angebot durchgeführt. Hier darf sich jedes Kind, das nicht so gut beim Lesen ist, anmelden, unabhängig vom Vorschlag einer Lehrkraft. Das Ganze dauert insgesamt eine Stunde, so kann jedes Kind dem Hund in gemütlicher Gruppengröße vorlesen und sieht sich mit seinem Problem auch nicht alleine. Im Gruppensetting ist darauf zu achten, dass nur Hunde mit Gruppenerfahrung dabei sind, so werden weder Mensch noch Tier unnötig belastet.

Für beide Formate war es von großer Bedeutung, geschützte Räumlichkeiten anbieten zu können. Die Schüler/-innen sind in der Regel mit der Erfahrung vorbelastet, dass das Lesen bei ihnen nicht so gut funktioniert. Das Vorlesen im öffentlichen Raum der Bibliothek wäre deshalb absolut kontraproduktiv. Wir haben uns ganz bewusst dazu entschieden, das Einzelsetting nicht zwischen den Regalen im Bibliotheksbetrieb oder außerhalb von Öffnungszeiten stattfinden zu lassen. Stattdessen wurde aus einem bisherigen Besprechungszimmer ein multifunktionaler Raum, der jetzt vorrangig für »Lesen mit Hund« zur Verfügung steht.

Beim »Onboarding« haben die Kinder Zeit, die Hunde zu begrüßen – beim ersten Treffen sollte diese Phase natürlich etwas länger sein, sodass die Kinder auch Fragen stellen und sich mit ihrem neuen Lesekumpel anfreunden können. Beim Erstkontakt zwischen Tier und Kind ist es wichtig, vorab Regeln zu besprechen. Ein respektvolles Umgehen mit dem Hund ist Voraussetzung. 

Für die gemeinsame Vorlesezeit wird eine passende Lektüre ausgewählt, die dem Lesevermögen der Kinder entspricht. Während die Schüler/-innen vorlesen, liegen die Hunde ruhig und entspannt in ihrer Nähe. Die Kinder dürfen die Hunde währenddessen auch streicheln, natürlich nur, wenn sie das möchten. Ob der Hund dabei tatsächlich aufmerksam ist oder etwas döst, ist dabei gar nicht so wichtig. Auch der beziehungsweise die Hundehalter/-in befindet sich in der Nähe und kann, falls nötig, kleine Impulse geben und Fragen beantworten. Er beziehungsweise sie greift dabei aber so wenig wie möglich ein. 

Vom Suchen und Finden nach den passenden Personen und Hunden

Über einen Aushang in einer Tierklinik und einer Anzeige im Wochenblatt wurden schnell interessierte Hundehalter/-innen gefunden. Um passende Lesehunde auszuwählen, haben wir Vorstellungsgespräche mit Hund und Halter/-in geführt und unser Augenmerk dabei besonders auf den Hund gelegt. Ob ein Hund als Lesehund geeignet ist, ist weniger von der Hunderasse als von den individuellen Charaktereigenschaften abhängig. Die Hunde sollten sich entspannen können, um Ruhe in den Leseprozess zu bringen. Außerdem sollten sie wesensfest, freundlich, kindergewöhnt und gelassen sein. Erwachsene Hunde eignen sich hierfür besser als Junghunde; und Assistenz- und Schulbegleithunde, die bereits mit Kindern in Kontakt getreten sind, sind natürlich am besten geeignet. Laute Geräusche und schnelle Bewegungen sollten den Hunden nichts ausmachen – besonders für das Gruppensetting ist diese Eigenschaft wichtig. Der Hund sollte mit Freude bei den Lesestunden sein und nicht mit Stress. Nur so wird die Leseförderung erfolgreich sein.

Die Hundehalter/-innen sollten eine gute Bindung mit ihrem Tier haben und in der Lage sein zu erkennen, falls es dem Hund in einer Situation doch zu viel wird, er Stress hat und er eine Pause benötigt. Alle Hundehalter/-innen mussten ein erweitertes Führungszeugnis, Impfausweis, Tierhalterversicherung und den Besuch einer Hundeschule vorweisen. Um die neugewonnenen Ehrenamtlichen nachhaltig an die Bibliothek zu binden, wurden mit ihnen Kooperationsverträge geschlossen. Die Termine für die Einzel- und Gruppensettings wurden für ein ganzes Jahr fest geplant, damit für beide Seiten eine Verbindlichkeit entsteht. 

Um die Hunde im Bibliotheksbereich und auch außerhalb der Stadtbücherei zu kennzeichnen, hat jeder neue tierische Mitarbeiter ein Halstuch bekommen, das ihn als »Lese-Hund« auszeichnet. Die Hunde tragen es bereits auf ihrem Weg zur Bücherei, sorgen so für Sichtbarkeit und wissen selbst, dass nun ihr Einsatz gefordert ist. Mindestens 15 bis 20 Minuten vor einer Session kommen die Hundehalter/-innen mit ihren Hunden in die Stadtbücherei, um sich an die Umgebung, in der das Lesen stattfindet, zu gewöhnen. In den Räumlichkeiten sollte es für die Hundehalter/-innen möglich sein, separat zu sitzen. Sie sollen nur eingreifen, wenn es die Situation erfordert.

Um den Stress für die Hunde so gering wie möglich zu halten, sollte bei wechselnden Hunden darauf geachtet werden, den Raum regelmäßig zu reinigen und am besten den Hund auf eigens für ihn mitgebrachten Decken liegen zu lassen. Wir haben uns dazu entschieden, leicht zu reinigende Teppiche und Möbel aus dem Kindergartenbedarf zu verwenden. 

Erstes Feedback

Insgesamt ist »Lesen mit Hund« eine liebevoll gestaltete und wertvolle Initiative, die in Bibliotheken unbedingt etabliert werden sollte.

Besonders positive Rückmeldungen konnten wir bereits von den Lehrkräften der Waisenhofschule als Pilotschule sowie den Eltern vernehmen. Es wurde eine deutliche Motivation im Leselernprozess festgestellt. Die Kinder, die im Einzelsetting begonnen haben, können zusätzlich mit anderen Kindern am Gruppensetting teilnehmen und fühlen sich in dieser Konstellation deutlich sicherer.

Auch die Bindung an die örtliche Bibliothek wird gefestigt, denn mit diesem Angebot erreichen wir genau das Klientel, das wir am dringendsten benötigen. Durch niedrigschwellige Angebote schaffen wir einen Bildungszugang ohne Barrieren.

Der Schlüssel liegt darin, die Bibliothek als offenen, lebendigen Ort des Lernens, Austauschs und der Freizeitgestaltung zu präsentieren. Es geht nicht nur um Bücher, sondern um eine Gemeinschaft, die allen offensteht.

Julius, Henri; Beetz, Andrea; Kotrschal, Kurt (2013): Psychologische und physiologische Effekte einer tiergestützten Intervention bei unsicher und desorganisiert gebundenen Kindern. Empirische Sonderpädagogik 5 (2), S. 160-166. 

Heyer, Meike; Beetz, Andrea M. (2014): Grundlagen und Effekte einer hundegestützten Leseförderung. Empirische Sonderpädagogik 6 (2), S. 172-187. 

Von Februar 2020 bis Juni 2023 war Kevin Butler stellvertretende Leitung der Stadtbibliothek Wolfsburg und setzte mit der Einführung der Medienwunschliste im Frühjahr 2023 ein Zeichen für mehr Nutzerbeteiligung. Seit Juli 2023 leitet er die Stadtbücherei Esslingen mit dem Ziel, sie als lebendigen Ort für alle weiterzuentwickeln. Seit Sommer 2024 bringt er seine Erfahrungen im Bibliothekarischen Beirat der ekz ein.

Nadine Schäufele arbeitet seit 1994 in der Bibliothek und verfügt über langjährige Erfahrung in der Lese-, Lern- und Sprachförderung. Neben ihrer bibliothekarischen Tätigkeit ist sie auch als Lerntherapeutin tätig. Als Lerntherapeutin unterstützt sie Kinder, Jugendliche und manchmal auch Erwachsene mit Lernschwierigkeiten oder Teilleistungsstörungen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), Dyskalkulie (Rechenschwäche) oder Konzentrationsproblemen. In der Bibliothek ist sie für die bibliothekspädagogischen Angebote zuständig und entwickelt Programme zur Förderung von Lesekompetenz und Sprachentwicklung. Darüber hinaus engagiert sie sich auf nationaler Ebene als Mitglied der Kommission für Kinder und Jugendliche des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv), wo sie aktuell an der Entwicklung eines Schutzkonzepts für Bibliotheken mitarbeitet.

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