Die Pressestelle der Stadt Hannover hat uns als Bibliothek kontaktiert, uns selbst – da nicht getaggt auf Twitter – hat die Diskussion »kalt erwischt«. Im ersten Moment wurden dann die Flyer entfernt. »Voreiliger Gehorsam« – ja, einerseits. Andererseits will man ja »handlungsfähig« bleiben. Vielleicht neigen wir als Bibliotheken bei Angrifen erst mal zum Rückzug. »Achtung, hier wollen und müssen wir ›neutral‹ bleiben!«, ist oftmals der erste Refex. Gerade, wenn mit Killerphrasen gearbeitet wird und Behauptungen im Raum stehen, dass »Kindeswohl« gefährdet sei.
Zudem wird gedroht; der »Unterhaltsträger« solle doch uns bitte zurechtweisen. Uns triggern in solchen Situationen stärker als gewollt »[…] Stimmen […, die] sich gegenwärtig oft als Opfer [inszenieren], weil sie angeblich nicht mehr gehört würden. Sie empören sich in diesem Zusammenhang, weil sie eine angebliche Mehrheitsmeinung aussprechen, die vermeintlich lange genug durch liberale Wortkosmetik tabuisiert wurde. […]«9 Hier müssen wir besser und souveräner als Bibliothek werden, vielleicht auch etwas langsamer im Entscheiden: »[…] Im Spannungsfeld von Neutralität, Informationsfreiheit und den Schutzrechten diskriminierter Minderheiten stellt sich auch dem Fachpersonal öfentlicher Bibliotheken die Frage, wie sie die Öfentlichkeit darin unterstützen kann, die Debatten nicht […] vereinnahmen zu lassen. Ohne Zensur auszuüben oder für bestimmte Gruppen Partei zu ergreifen, hat das Fachpersonal von öfentlichen Bibliotheken die schwierige Herausforderung zu bewältigen, darauf eine Antwort zu finden. […]«10
»Ohne Partei zu ergreifen« – ja, im parteipolitischen Kontext gilt dies, da besteht ein konkretes Neutralitätsgebot. Im vorliegenden Fall aber galt es, sich zu entscheiden, und nach Rücksprache mit den Expert*innen aus dem andersraum haben wir dies getan. Die Flyer wurden wieder ausgelegt, unser Statement auf Twitter war eindeutig: »Liebe alle, besagte Broschüre kommt von http://queer-lexikon.de und ist abzurufen unter https://queer-lexikon.net/ wp-content/uploads/2022/04/2022_Broschuere_Binder_ V4_WEB.pdf…. Als Stadtbibliothek kooperieren wir eng mit https://andersraum.de
. Es ist uns ein großes Bedürfnis, als diverser SafeSpace in der Stadtgesellschaft zu fungieren. [….] Generell – und das ist mir und meinen Kolleg*innen wichtig – freuen wir uns immer über Anregungen, die unsere Bemühungen um das o.a. Ziel (safe und divers) unterstützen! [….] Der Bitte ›Entfernen Sie diese Flyer aus der Stadtbibliothek‹ werden wir als #StadtbibliothekHannover nicht entsprechen. Die Broschüren liegen auch bei andersraum.de aus. Generell wird die Kooperation erweitert. [….] #divers & #safe bleiben Leitfaden.«
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Für mich war es schwierig, mich bei den vielen difamierenden und angreifenden Stimmen nicht immer wieder kommentierend einzuschalten. Neben dem Shitstorm haben ich persönlich und wir als Institution Bibliothek in der Debatte viel Unterstützung erfahren, aber auch von dieser »Seite« wurde es oft polemisch. Eine »faire« Auseinandersetzung, ein Versuch, unterschiedliche »Seiten« in einen respektvollen Dialog zu bekommen – das ist uns nicht gelungen. Zugegeben: Auf Twitter haben wir uns extrem zurückgehalten, die Debatte in den physischen Raum zeitnah zu tragen, haben wir erstmal verworfen. Für den 10. Dezember – den Tag der Menschenrechte – ist nun gemeinsam mit andersraum eine Veranstaltung geplant, die das Thema noch einmal aufgreift.
Die Debatte und unsere/meine Reaktion und Positionierung wurde im bibliotheksinternen Forum aufgegriffen, und zwar sehr diskursiv, geprägt von einer wie ich finde guten Streit- und Diskussionskultur:12
- Dieser Shitstorm ist so weit entfernt von einer konstruktiven Diskussion wie es nur geht, allein schon der Vergleich, als nächstes würden wir zum »Heroin spritzen« aufrufen.
- Das Thema Diversität wird gesellschaftlich breit diskutiert und hat dadurch eine viel höhere Aufmerksamkeit, als ich es in meiner bisherigen Biografie erlebt habe. Allerdings habe ich im Laufe der Zeit erlebt, dass es für die Meinungsbildung und breitere gesellschaftliche Akzeptanz von bisherigen Tabuthemen zunächst eine Phase geben muss, in der diese Themen möglicherweise unverhältnismäßig stark im Verhältnis zur betroffenen Gruppe in den öffentlichen Fokus gestellt werden müssen. Auch ich war persönlich erst etwas irritiert über die Darstellung, Beschreibung der Inhalte dieser Flyer. Als Mutter und Oma habe ich dann überlegt, was ich tun würde, wenn meine Kinder (damals) oder Enkelkinder mit diesen Flyern zu mir kommen würden: Kleinere Kinder finden diese an dem Standort nicht, sie »verlaufen« sich nicht allein in die Soziologie-Abteilung. Und ältere? Mit denen würde ich in den Dialog gehen; und das ist doch ein Ergebnis, das wir uns als Bibliothek wünschen können, oder? Von daher schlage ich vor, etwas mehr Gelassenheit walten zu lassen.
- Ich persönlich bin in dem Thema Gender, sexuelle Identität usw. wahrlich kein Experte. Aber Informationen sind ein Gut, junge Menschen, aber auch alle anderen Interessierten, sollten sich informieren können.
- Ich selbst sehe mich als einen konservativ-liberalen Menschen. Kritische Stimmen bei vielen vergleichbaren und aktuellen Themen, wie eben auch diesem, werden gerne ins rechte Lager verortet oder der Intoleranz unterstellt, dem ist hier nicht so. […] Ablehnung habe ich gegen Flyer, die von der Aufmachung her ohne jeden Zweifel für Kinder und Jugendliche konzipiert sind. Layout, Bilder und Text sind definitiv für Heranwachsende gemacht. Daher ist es auch egal, ob diese im Kinderbereich liegen oder nicht – die Zielgruppe ist eindeutig. Ich finde es sehr suspekt und für eine Bibliothek mehr als unpassend, Anleitungen offen zu legen, die in kindlicher Art und Weise erklären, wie man Geschlechtsorgane abbindet, versteckt oder Ähnliches. Das ist kein Weg in Richtung ›#divers‹ & ›#safe‹ sondern in Richtung Selbstverstümmlung.
- Schön, wie sehr sich Twitter um die Massen an Kindern und Jugendlichen sorgt, die sich tagtäglich durch dir Soziologieabteilung wälzen...
- Besonders weit komme ich in diesen »Diskussionen« nie, weil es mich mitnimmt, wie engstirnig, borniert, intolerant bis hasserfüllt Menschen sein können. Umso mehr freue ich mich, die positiven bis teils lustigen Reaktionen des Kollegiums zu sehen. Leider darf man die ja nicht als selbstverständlich sehen, darum tue ich das auch nicht und freue mich über positiven Ausgleich für mein Bild der Gesellschaft ;)
Auch hier, in der internen Debatte gilt: Nicht jede Meinung muss jede*r teilen, aber es ist gut, dass es Freiräume und den Mut gibt, unterschiedliche Positionen zu äußern. Daran wachsen wir als Institutionen, und diese Unterschiede – auch das ist ein Aspekt von Diversity – müssen wir aushalten. Nicht immer ist ein Konsens möglich, manchmal dürfen und müssen Positionen auch unvereinbar nebeneinanderstehen. Als Bibliotheken sind wir vor allem dem Grundgesetz verpflichtet, der »Würde des Menschen«. Diese muss im Diskurs gewahrt bleiben, diesen Schutz-Raum zu geben sind wir verpflichtet, nach innen wie nach außen.
Wo die Grenzen liegen, muss im Einzelfall verhandelt und überdacht werden. So beschäftigt mich – eher grundlegend als bezogen auf den hier geschilderten Fall – immer wieder auch die folgende Aussage auf Twitter – gerade auch vor dem Hintergrund meines Profils, in dem ich mich sehr klar als »queer. links. dem wandel verpflichtet. bibliothekar aus leidenschaft« beschreibe:
»Haben Sie jemals daran gedacht, ihre persönlichen Präferenzen und politischen Anschauungen nicht zum Maßstab für das Handeln als zu politischer Neutralität verpflichteter Bediensteter zu machen?«
Und als (ehemaliger?) Aktivist auch für queere Themen bleibt diese Frage aktuell. Dennoch: Ich bin und bleibe überzeugt, dass wir eine »wehrhafte Demokratie« benötigen, dass wir weder als Bibliothek noch als Bibliothekar*in neutral in einem passiven Verständnis sein dürfen. Wir bilden und wir vermitteln Kenntnisse »[…] mit dem Ziel, autonome und mündige Bürger zu erziehen. […] Die[se] Vermittlung […] kann jedoch nicht wertfrei erfolgen.«13 Bibliotheken als öffentliche Räume müssen, so habe ich es mit Cornelia Vonhof an anderer Stelle geschrieben,»dem Anspruch gerecht werden, Einzelne vor Zumutungen durch Diskriminierungen und Verletzungen zu bewahren, zudem aber auch für Irritationen, Unannehmlichkeiten und Konfrontationen im Sinne von ‚Bitte stören‘ – raus aus der Komfortzone – sorgen; eine schwierige Balance, die nicht ohne Konflikte zu halten sein wird.«14 Von daher: Stolpern wir weiter, parteipolitisch neutral und demokratiepolitisch mit einer Haltung, in der wir uns immer wieder hinterfragen lassen.
1 Vgl. Hedtke, Sibylle und Becker, Tom: Homophobie begegnen. Mehr als Regenbogenflagge und Büchertisch. In: BuB 73 (2021) Heft 2-3 S. 124f. und Testroet, Marcel: »Wir verstehen uns als gelebter Safe Space«. Ebd. S. 126f.
2 Balthis Binder-Broschüre: Alles was du über Binder wissen musst. o.J., queer-lexikon.net
3 Tucking und Gaffs: Eine Broschüre für trans-weibliche und nicht-binäre Menschen. o.J., queer-lexikon.net
4 Die Tweets wurden grammatikalisch angepasst und werden bewusst nicht einzeln zitiert.
5 Der Autor war viele Jahre aktiv lesben- und schwulenpolitisch engagiert und zeitweise im Bundesvorstand der queerSPD.
6 Hofmann, Inga: Das Queer-Lexikon. Was bedeutet Terf? Tagesspiegel vom 21.01.2022, 11:56 Uhr
7 Hofmann, Inga: Das Queer-Lexikon. Was bedeutet Terf? Tagesspiegel vom 21.01.2022, 11:56 Uhr
8 Wexelbaum, Rachel S.: The Library as Safe Space. In: The Future of Library Space, 2016 pp. 37-78
9 ebd. im Abstract
10 ebd.
11 Zusammenfassung dreier Tweets von @leih_verkehr, dem Autor dieses Artikels
12 Gekürzte und redigierter Beiträge aus dem bibliotheksinternen Forum
13 Massing, Peter: Politische Bildung. In: Andersen, Uwe / Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg: Springer VS 2013
14 Becker, Tom / Vonhof, Cornelia (2023). Bibliotheken auf die (kultur-)politische Agenda!. In: Anna Blaich / Felix Grädler / Henning Mohr / Hannes Seibold (Eds.), Kultur:Wandel - Impulse für eine zukunftsweisende Kulturpraxis (277-282). Bielefeld: transcript Verlag