Friederike Mayröckers »Zetteluniversum«
Friederike Mayröcker wurde im Laufe ihres fast 100-jährigen Lebens durch ihr eigenwilliges Schreib-Wohn-Konzept zu einem exzentrischen Phänomen der Wiener Literaturszene. Die Vielschreiberin notierte ihre Lyrik- und Prosatexte, später ihre als »Proeme« bezeichneten Gattungsmischformen zunächst auf kleine Handzettelchen, Papierreste oder andere Alltagsutensilien wie Pappteller, Servietten, Theaterkarten et cetera und tippte diese sodann in Reinform auf ihrer Schreibmaschine – der legendären Hermes Baby – ab. Die während des Schreibprozess entstandenen Papiermaterialien stapelten sich in der gesamten Wohnung, hingen mit Wäscheklammern befestigt auf Schnüren oder wurden thematisch in kleinen Wäschekörben abgelegt.
Nach der Erwerbung von Mayröckers Vorlass im Jahr 2019, ein letztendlich auf zwei Wohnungen verteiltes »Zetteluniversum«, wurde vom Team des Literaturarchivs innerhalb von zwei Jahren Papierschicht für Papierschicht abgetragen, die Materialien adäquat gereinigt und ins Archiv transportiert, wo sie nun nach geltendem Regelwerk sukzessiv bearbeitet, wissenschaftlich ausgewertet und zur Verfügung gestellt werden.
Der digitale Wandel I
Nicht nur die schier unendliche Fülle an physischem Papiermaterial, wie es bei Mayröcker der Fall ist, stellt das Literaturarchiv aktuell vor Herausforderungen, sondern auch die digitale Transformation, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht und verändert. Während die Digitalität als gelebte Kulturpraxis längst etabliert ist, zeitgenössische Schriftsteller/-innen und Intellektuelle nicht nur digital arbeiten, publizieren und kommunizieren, sondern auch digitale beziehungsweise soziale Medien als Kunstform nutzen, erarbeitet das Literaturarchiv in Reaktion auf diese Entwicklung – wie viele anderen Bibliotheken, Archive, Museen und sonstige Kulturinstitutionen – eine nachhaltige Strategie, wie mit der Masse an digitalem und Born-Digital-Material umgegangen, wie dieses gesammelt, langzeitarchiviert, zur Verfügung gestellt und präsentiert werden kann.
Im Zuge der Strategie 2023-2027, die alle Abteilungen der Österreichischen Nationalbibliothek hinsichtlich verschiedenster Innovationen (zum Beispiel Nutzerinnenzentrierung, Nachhaltigkeit, Datenbasierte Services, Objektdigitalisierung, Teaching Library et cetera) beschäftigt, ist das Team des Literaturarchivs maßgeblich in den Entwicklungsprozess von Tools involviert, durch die in naher Zukunft E-Mail-Korrespondenzen oder verschiedene Manuskript-Fassungen als Word-Dokumente et cetera organisiert werden können.
Der digitale Wandel II
Nicht nur in der Beschaffenheit der Vor- und Nachlassmaterialien offenbart sich der digitale Wandel, sondern auch in den Formen des wissenschaftlichen Arbeitens. Neben dem Sammeln und der physischen und digitalen (Langzeit-)Archivierung ist das Literaturarchiv ebenso für die geisteswissenschaftliche Auswertung und Erforschung seiner Bestände verantwortlich. Während das vom Literaturarchiv herausgegebene Magazin »Profile« jährlich in einer hochwertigen Print-Version im Zsolnay-Verlag erscheint, wird der Sammelband »Sichtungen. Archiv, Bibliothek, Wissenschaft« nach dem Relaunch im Frühjahr 2024 im Wallstein-Verlag zweijährlich als Hybridpublikation (Print und Open Access) verlegt.
In einem gemeinsamen mehrjährigen Projekt mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) erarbeitet das Literaturarchiv zudem eine Digitale Edition von Peter Handkes Notizbüchern. Die insgesamt 22 Notizbücher des Nobelpreisträgers, die im Zeitraum von 1976 bis 1979 geschrieben wurden und als aussagekräftiger, noch kaum berücksichtigter Werkkomplex aus Traum- und Reisenotizen, Zeichnungen und Skizzen, eingelegten Fundstücken wie getrockneten Pflanzen et cetera gelten, werden kontinuierlich als Faksimiles, mit einer Transkription, einer Lesefassung und einem Stellenkommentar zur Verfügung gestellt und mithilfe von Registern erschlossen.
Da digitale und Born-Digital-Materialien zukünftig nicht nur gesammelt, langzeitarchiviert und zur Verfügung gestellt, sondern auch ansprechend präsentiert werden sollen, bringt sich das Literaturarchiv darüber hinaus in die (Weiter-)Entwicklung von Online-Ausstellungen ein. Neben unter anderen zwei umfassenden Online-Ausstellungen zu den Schriftsteller/-innen Erich Fried und Ruth Klüger wird im Oktober 2023 eine Online-Ausstellung mit begleitender Foyer-Ausstellung im Literaturmuseum zum 100-jährigen Bestehen des österreichischen PEN-Clubs mit einem Schwerpunkt auf das »Writers in Prison«-Komitee, das sich für inhaftierte Autorinnen und Autoren einsetzt, eröffnet.