Eine der bedeutsamsten Literatursammlungen im deutschsprachigen Raum

Vorgestellt: Das Literaturarchiv und Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien
Außenansicht des Lietraturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek.
Das 1848 im traditionellen Wiener Biedermeierstil gebaute Gebäude in der Johannesgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk beherbergt seit 2015 das Literaturmuseum. Foto: Österreichische Nationalbibliothek/Pichler

 

Das Literaturarchiv und das dazugehörige Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek gehören zu den wichtigsten einschlägigen Institutionen im deutschsprachigen Raum. Anlässlich der Leipziger Buchmesse 2023 mit ihrem Gastland Österreich stellt BuB diese sowie ausgewählte Arbeitsbereiche und Projekte vor. Die April-Ausgabe 2023 von BuB wird einen inhaltlichen Schwerpunkt zur Messe und ihrem Gastland bekommen.

Das Literaturarchiv

Neben einer Vielzahl an Spezialsammlungen beherbergt die Österreichische Nationalbibliothek eines der bedeutendsten Literaturarchive im gesamten deutschsprachigen Raum. Die sich heute im Michaelertrakt der Hofburg befindliche Sammlung nahm im Herbst 1996 ihren Vollbetrieb auf und etablierte sich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte zur zentralen Institution, die für das Sammeln, die adäquate Archivierung, die Katalogisierung und die anschließende wissenschaftliche Auswertung und Erforschung und Präsentation und Vermittlung von Vor- und Nachlässen – mittlerweile über 560 Bestände – zur österreichischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts verantwortlich ist.

Während mit Beständen von gewichtigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie Intellektuellen wie zum Beispiel Berta Zuckerkandl, Karl Kraus, Egon Friedell, Robert Musil, Ödön v. Horvath, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard oder Nobelpreisträger Peter Handke ein allgemeines Abbild von der historischen wie zeitgenössischen österreichischen Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte gezeigt wird, bildeten sich zusätzliche Sammelschwerpunkte heraus.

 

Die Sammelschwerpunkte »Schriftsteller:innen im Exil«, »Kabarett« und »Österreichische Avantgarde«

Der Erwerb von Erich Frieds Nachlass im Jahr 1990 etwa, der mit knapp 900 Archivboxen und einer aus 10.000 Bänden bestehenden Nachlassbibliothek zu den umfangreichsten Beständen des Archivs zählt, gab den Anstoß, die problematische Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert durch einen Sammelschwerpunkt auf Schriftsteller/-innen des Exils aufzuarbeiten. Gezielte Ankäufe der Nachlässe von unter anderen der Autorin und Journalistin Hilde Spiel, dem Philosophen Günter Anders oder der Shoa-Überlebenden und Zeitzeugin Ruth Klüger können hierfür exemplarisch hervorgehoben werden.



Die enge Verwobenheit von Literatur und Performancekunst, die für die österreichische literarische Tradition charakteristisch ist, zeigt sich einerseits in der lebendigen Kabarettkultur der Vor- wie Nachkriegszeit, die im Archiv mit Beständen von zum Beispiel Karl Farkas, Peter Hammerschlag, Maxi Böhm oder Gerhard Bronner vertreten ist. Dort knüpft andererseits auch die Avantgardebewegung der Wiener Gruppe ab den 1950er-Jahren an, die in ihren Textexperimenten auf die akustische (vor allem in der Lautpoesie) und optische Form (vor allem in der visuellen Lyrik) der Sprache zurückgeht und bekannt dafür geworden ist, ihre Lesungen in den, Ende der 1950er-Jahren veranstalteten »literarischen cabarets« als multimediale Happenings zu gestalteten. Die Bestände der Mitglieder der Wiener Gruppe – H.C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener – sind vollständig oder in Teilen im Literaturarchiv ebenso verwahrt wie die der etwas abseits stehenden, ihren jeweiligen eigenen Schreibstil entwickelnden, der Wiener Gruppe aber stets freundschaftlich verbundenen Schriftsteller/-innen Elfriede Gerstl, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.

Friederike Mayröckers »Zetteluniversum«

Friederike Mayröcker wurde im Laufe ihres fast 100-jährigen Lebens durch ihr eigenwilliges Schreib-Wohn-Konzept zu einem exzentrischen Phänomen der Wiener Literaturszene. Die Vielschreiberin notierte ihre Lyrik- und Prosatexte, später ihre als »Proeme« bezeichneten Gattungsmischformen zunächst auf kleine Handzettelchen, Papierreste oder andere Alltagsutensilien wie Pappteller, Servietten, Theaterkarten et cetera und tippte diese sodann in Reinform auf ihrer Schreibmaschine – der legendären Hermes Baby – ab. Die während des Schreibprozess entstandenen Papiermaterialien stapelten sich in der gesamten Wohnung, hingen mit Wäscheklammern befestigt auf Schnüren oder wurden thematisch in kleinen Wäschekörben abgelegt.

Nach der Erwerbung von Mayröckers Vorlass im Jahr 2019, ein letztendlich auf zwei Wohnungen verteiltes »Zetteluniversum«, wurde vom Team des Literaturarchivs innerhalb von zwei Jahren Papierschicht für Papierschicht abgetragen, die Materialien adäquat gereinigt und ins Archiv transportiert, wo sie nun nach geltendem Regelwerk sukzessiv bearbeitet, wissenschaftlich ausgewertet und zur Verfügung gestellt werden.

 

Der digitale Wandel I

Nicht nur die schier unendliche Fülle an physischem Papiermaterial, wie es bei Mayröcker der Fall ist, stellt das Literaturarchiv aktuell vor Herausforderungen, sondern auch die digitale Transformation, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht und verändert. Während die Digitalität als gelebte Kulturpraxis längst etabliert ist, zeitgenössische Schriftsteller/-innen und Intellektuelle nicht nur digital arbeiten, publizieren und kommunizieren, sondern auch digitale beziehungsweise soziale Medien als Kunstform nutzen, erarbeitet das Literaturarchiv in Reaktion auf diese Entwicklung – wie viele anderen Bibliotheken, Archive, Museen und sonstige Kulturinstitutionen – eine nachhaltige Strategie, wie mit der Masse an digitalem und Born-Digital-Material umgegangen, wie dieses gesammelt, langzeitarchiviert, zur Verfügung gestellt und präsentiert werden kann.



Im Zuge der Strategie 2023-2027, die alle Abteilungen der Österreichischen Nationalbibliothek hinsichtlich verschiedenster Innovationen (zum Beispiel Nutzerinnenzentrierung, Nachhaltigkeit, Datenbasierte Services, Objektdigitalisierung, Teaching Library et cetera) beschäftigt, ist das Team des Literaturarchivs maßgeblich in den Entwicklungsprozess von Tools involviert, durch die in naher Zukunft E-Mail-Korrespondenzen oder verschiedene Manuskript-Fassungen als Word-Dokumente et cetera organisiert werden können. 

 

Der digitale Wandel II

Nicht nur in der Beschaffenheit der Vor- und Nachlassmaterialien offenbart sich der digitale Wandel, sondern auch in den Formen des wissenschaftlichen Arbeitens. Neben dem Sammeln und der physischen und digitalen (Langzeit-)Archivierung ist das Literaturarchiv ebenso für die geisteswissenschaftliche Auswertung und Erforschung seiner Bestände verantwortlich. Während das vom Literaturarchiv  herausgegebene Magazin »Profile« jährlich in einer hochwertigen Print-Version im Zsolnay-Verlag erscheint, wird der Sammelband »Sichtungen. Archiv, Bibliothek, Wissenschaft« nach dem Relaunch im Frühjahr 2024 im Wallstein-Verlag zweijährlich als Hybridpublikation (Print und Open Access) verlegt.

In einem gemeinsamen mehrjährigen Projekt mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) erarbeitet das Literaturarchiv zudem eine Digitale Edition von Peter Handkes Notizbüchern. Die insgesamt 22 Notizbücher des Nobelpreisträgers, die im Zeitraum von 1976 bis 1979 geschrieben wurden und als aussagekräftiger, noch kaum berücksichtigter Werkkomplex aus Traum- und Reisenotizen, Zeichnungen und Skizzen, eingelegten Fundstücken wie getrockneten Pflanzen et cetera gelten, werden kontinuierlich als Faksimiles, mit einer Transkription, einer Lesefassung und einem Stellenkommentar zur Verfügung gestellt und mithilfe von Registern erschlossen.

Da digitale und Born-Digital-Materialien zukünftig nicht nur gesammelt, langzeitarchiviert und zur Verfügung gestellt, sondern auch ansprechend präsentiert werden sollen, bringt sich das Literaturarchiv darüber hinaus in die (Weiter-)Entwicklung von Online-Ausstellungen ein. Neben unter anderen zwei umfassenden Online-Ausstellungen zu den Schriftsteller/-innen Erich Fried und Ruth Klüger wird im Oktober 2023 eine Online-Ausstellung mit begleitender Foyer-Ausstellung im Literaturmuseum zum 100-jährigen Bestehen des österreichischen PEN-Clubs mit einem Schwerpunkt auf das »Writers in Prison«-Komitee, das sich für inhaftierte Autorinnen und Autoren einsetzt, eröffnet.

Das Literaturmuseum und seine Dauerausstellung

Das Engagement für Online-Ausstellungen, die seit der COVID-19 Pandemie Eingang in den Archivalltag gefunden haben, resultiert unter anderem aus einer mehrjährigen und erfolgreichen Ausstellungspraxis, die mit der Eröffnung des Literaturmuseums im April 2015 ihren Anfang fand. Das Literaturmuseum, das neben dem historischen Prunksaal, dem Globenmuseum, dem Papyrusmuseum, dem Esperantomuseum und dem Haus der Geschichte zum Museumskomplex der Österreichischen Nationalbibliothek gehört, befindet sich in der Johannesgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk. Das 1848 im traditionellen Wiener Biedermeierstil gebaute Gebäude fungierte als Archiv der k. u. k. Hofkammer und beherbergte Finanzakten aus dem gesamten Raum der Habsburgermonarchie. Dass der österreichische Klassiker des 18. Jahrhunderts Franz Grillparzer in den Jahren 1832 bis 1856 mit der Leitung des k. u. k. Hofkammerarchivs betraut war, spiegelt sich in seinem heute noch im Original erhaltenen und zu besichtigenden Amtszimmer.

Um dieses herum erstreckt sich auf zwei Stockwerken die Dauerausstellung, eine multimediale Tour in insgesamt 44 chronologischen beziehungsweise thematischen Stationen durch die österreichische Literaturgeschichte beginnend im Zeitalter der österreichischen Aufklärung Ende des 18 Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Von großer Besonderheit ist, dass sich die knapp 700 Exponate – vor allem Originalmanuskripte, -typoskripte, besondere Buchexemplare, Briefe, Fotos, Videos, Tonbandaufnahmen oder verschiedenste werkverbundene Objekte der Schriftsteller/-innen – in die originalen, denkmalgeschützten, bis an das Deckengewölbe ragenden Archivregale einfügen. Der historische Archivraum ist damit nicht nur eine öffentlich zugängliche Fortsetzung des Literaturarchivs, sondern zugleich eine Bühne für die Originalmaterialien der neueren und neuesten österreichischen Literatur, was auch die aufwendige Gestaltung unterstreicht.

 

Die Sonder- und Wanderausstellungen im Literaturmuseum

Neben der Dauerausstellung, die kontinuierlich aktualisiert und überarbeitet wird, befindet sich im obersten Ausstellungsstockwerk eine jährlich wechselnde Sonderausstellung, die sich entweder einem speziellen Thema (in den vergangenen Jahren zum Beispiel »Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur« [2020-2021] oder »Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur« [2019-2020]) oder einem/einer Autor/-in widmet.

Aktuell läuft bis zum 5. November 2023 – am 17. Oktober 2023 jährt sich der 50. Todestag der Autorin – die Ausstellung »Ingeborg Bachmann – eine Hommage«.  Diese widmet sich einer der einflussreichsten und faszinierendsten Persönlichkeiten der deutschsprachigen Literatur. Originale Werkmaterialien und Briefe geben Einblicke in die Auseinandersetzung Bachmanns mit Krieg, Krankheit, Beziehungs- und Geschlechterverhältnissen, thematisieren zudem auf zugängliche Weise ihre Begeisterung für Musik und Philosophie. Nach der Laufzeit in Wien geht die Ausstellung von März bis Juli 2024 ins Literaturhaus München.



Als anschließende Wanderausstellung wurde auch die vorhergehende Sonderausstellung »Stefan Zweig. Weltautor« konzipiert, die in Kooperation mit dem Stefan Zweig-Zentrum Salzburg kuratiert und von 2021 bis 2022 im Literaturmuseum zu sehen war. Am 22. Februar wurde die Wanderausstellung in der Stadtbibliothek Salzburg eröffnet, danach wird sie in den nächsten zehn Jahren in Ausstellungsräumen und österreichischen Kulturforen weltweit gezeigt.

 

»JETZT & ALLES. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre«

Anlässlich der Leipziger Buchmesse, die in diesem Jahr ihr Gastland Österreich unter dem Titel »meaoiswiamia« präsentiert, erarbeitete das Literaturmuseum in Kooperation mit dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek die Wechselausstellung »JETZT & ALLES. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre«, die vom 26. April 2023 bis zum 7. Januar 2024 in Leipzig zu besichtigen sein wird. Die Ausstellung stellt die wichtigsten österreichischen Autorinnen und Autoren der letzten 50 Jahren, darunter Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Peter Handke, Friederike Mayröcker, Gert Jonke, Ruth Klüger sowie jüngere Stimmen wie unter anderen Arno Geiger, Ann Cotten und Clemens J. Setz einem internationalen Leser/-innenpublikum vor.

Sie erzählt die Entstehungsgeschichten von Texten und inszeniert die Materialität, die Techniken und die Medien des Schreibens: Sichtbar werden so das Formbewusstsein, die Vielstimmigkeit, Musikalität und Mehrsprachigkeit einer gleichermaßen streitbaren wie experimentierfreudigen Literatur. Ein hochkarätig besetztes Symposium und weitere Veranstaltungen werden die Ausstellung inhaltlich fortführen.

 

In der April-Ausgabe 2023 von BuB  widmen wir uns ganz der Leipziger Buchmesse und ihrem diesjährigen Gastland Österreich. Enthalten sind weitere Beiträge über die vielfältige Bibliothekenlandschaft in unserem Nachbarland.

Susanne Rettenwander, geboren 1992, studierte Philosophie, Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaften und Library and Information Studies in Wien, 2018 bis 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, 2019 bis 2020 Stellvertretende Leiterin des Nietzsche-Dokumentationszentrums, seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

Interessantes Thema?

Teilen Sie diesen Artikel mit Kolleginnen und Kollegen:

Nach oben