Per Zufall zum literarischen Leckerbissen

Keine Bibliothek in der Nähe? Einen öffentlichen Bücherschrank gibt es fast überall. Wilfried Sühl-Strohmenger hat sich die Tauschregale genauer angesehen.
Öffentliches Bücherregal, Niederlande
Boekenkast/Bücherkasten am Zugang zum Strand in Bergen aan Zee, Nordholland. Foto: Wilfried Sühl-Strohmenger

 

Immer öfter sieht man unterwegs, sei es beim Spazierengehen, bei einem Ausflug, irgendwo auf einer Reise oder beim Einkaufen, einen öffentlichen Bücherschrank, meistens geschieht das eher zufällig. Natürlich ist es auch möglich, gezielt nach einem öffentlichen Bücherregal zu suchen, aber das ist eher selten der Fall, erscheint auch als wenig erfolgversprechend. Wenn also unvermutet ein solches Bücherregal am Straßenrand oder auf einem Platz im Stadtzentrum, in einem Stadtteil oder in einer Ortschaft gesichtet wird, lohnt sich meistens ein Blick auf die dort recht ungeordnet versammelten Bücher, aber nicht nur deswegen: Öffentliche Bücherschränke sind vielfach phantasievoll gestaltet, sie fügen sich zwanglos in die jeweilige Umgebung ein und sie wecken Neugier, wie die folgenden Beispiele zeigen sollen.

 

Öffentliche Bücherschränke sind recht stark verbreitet, nicht nur in Deutschland und in Österreich, sondern beispielsweise auch in Frankreich, in Italien und in den Niederlanden, sowohl in Städten als auch auf dem Land und am Meer. Etwa seit 2010 gibt es nach Recherchen des Verfassers erste Berichte über Bücherschränke, meistens erschienen in Zeitungen, Magazinen oder sonstigem, eher regionalen Schrifttum. Die Rede ist zum Beispiel von »Futterstellen für Leseratten«1 oder man stellt die Frage: »Fördern sie die Leselust?«2 Gesprochen wird auch von »Mini-Bibliotheken«, unter dem schönen Motto: »In Büchern liegt die Seele aller gewesenen Zeit«3, und man erfährt, dass es auch in Eslohe-Wenholthausen (Sauerland) einen Bücherschrank gibt.4

Öffentliche Bücherschränke werden dem Kontext des Teilens zugeordnet, wie ein entsprechender Guide veranschaulicht.5 Öffentliche Bücherregale fungieren also als Orte des Tauschens6, können ein Korrektiv zum raschen Wegwerfen oder sonstigem »Entsorgen« von Büchern bilden: Wer ein Buch aus dem Regal entnimmt, sollte ein anderes aus bislang eigenem Besitz dafür einstellen. Außerdem sind im Straßenraum vielfach private Bücherkisten anzutreffen, aus denen sich die Passantinnen und Passanten bedienen können. Hier steht das Verschenken und Mitnehmen von Büchern im Vordergrund, nicht das Tauschen, wie im Fall der öffentlichen Bücherregale. Da diese privaten Bücherkartons jeglichem Wetter ausgesetzt sind, dennoch an ihrem Platz bleiben, wären mehr öffentliche Bücherregale vielleicht die bessere Lösung.   

Öffentliche Bücherschränke werden im Zusammenhang mit stadtplanerischen Reformkonzepten als ein Element der »Straße als gelebtem Raum« thematisiert: »Die Konzepte im Funktionalismus sahen großflächige Räume vor, die dem Verkehr dienen und deshalb nicht von kleinteiligen Strukturen gestört werden sollten. Doch die Planungen heutzutage stellen kleine Bänke in die Straßenräume, Bepflanzungen, Bücherschränke, an denen man sich frei bedienen kann, und vieles andere.«7 Deutlich wird insofern, dass öffentliche Bücherregale eventuell mehr leisten können, als zunächst vermutet, eventuell auch für das informelle (beiläufige) Lernen.

Nun sollte man allerdings solche Bücherschränke nicht überschätzen, sondern das Spontane, das Leichte und Niedrigschwellige sehen. So stieß der Verfasser in Frankreich zufällig auf eher kleine Bücherkästen, die für vorbeigehende Bürgerinnen und Bürger sowie für flanierende Reisende gedacht sind. Dort finden sie vornehmlich Reiseliteratur, wie es die Beschriftung außen am Schrank verheißt. Unklar ist, ob diese Regale von Bürgerinnen und Bürgern oder von einer städtischen Institution betreut und bestückt werden, eventuell von der Médiathèque am Ort.  Nach der eher kreativen Unordnung in den beiden Schränken zu urteilen, wohl eher nicht.

Im holländischen Bergen aan Zee ist ein attraktives Bücherregal beim Zugangsweg zum Badestrand aufgestellt (siehe Foto oben). Hier haben die Strand- und Badefreudigen Zeit und Muße einen Blick in die Regale zu werfen, vielleicht ein Buch mit an den Strand zu nehmen, darin zu blättern, es zu lesen, danach womöglich gleich wieder zurückzustellen, wenn der Strandtag sich dem Ende zuneigt.

Solche Bücherschränke finden sich also mittlerweile in vielen Ländern, so auch in Italien. Auffällig an dem gewählten Beispiel aus Castiglione della Pescaia (Toskana) ist, dass im dortigen Regal deutlich weniger Bücher vorrätig zu sein scheinen als in den Schränken der anderen Beispiele. Allerdings darf daraus keineswegs die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in Italien weniger Interesse an der Buchlektüre besteht, sondern spezifische standortbezogene Faktoren könnten dafür verantwortlich sein.

Öffentliche Bücherregale begegnen uns auch in Kurparks, wie am Beispiel Bad Krozingen veranschaulicht. Diese eignen sich in mehrfacher Hinsicht besonders gut für solche Angebote, denn die Kurgäste oder Reha-Patienten (in Bad Krozingen gibt es mehrere Kliniken) haben Zeit zum Lesen, sie tragen darüber hinaus zu den Regalbeständen einiges bei, indem sie von zu Hause mitgebrachte Literatur dort einstellen. Speziell in den Krozinger Regalen lässt sich sodann gut beobachten, dass offensichtlich viele buchaffine Menschen in die Reha-Kliniken beziehungsweise für einen Kuraufenthalt kommen, denn die Bücher repräsentieren einen gewissen Querschnitt durch ein traditionelles bildungsbürgerliches Leseverständnis. Nicht wenige Klassikerausgaben sind in den Regalen des Kurparks zu finden, dazu Lexika, Reiseführer, Werke von Autorinnen und Autoren mit Schaffensschwerpunkt im Zeitraum 1950 bis in die 1970er-Jahre, also zum Beispiel von Böll, Frisch, Dürrenmatt, Lenz, Konsalik, Keun, Koeppen, dazu auch englischsprachige Literatur (Faulkner, Hemingway Updike und andere). Betreut werden die Bücherregale im Kurpark von Bad Krozingen vom Lions Club Bad Krozingen – Staufen, der für entnommene Bücher um eine kleine finanzielle Spende zwischen ein und fünf Euro bittet.

Im Alltagsleben eignen sich öffentliche Bücherschränke in Einkaufszentren, wie oben bereits an dem Beispiel aus Italien. Besonders ansprechend sind sie vom Management des ZO-Einkaufszentrums in Freiburg gestaltet . Dieses hat dafür gesorgt, dass stabile Regale aufgestellt, dass der Bodenbereich eigens mit goldgelber Schrift und mit aufgebrachten Buchmotiven die Aufmerksamkeit der Einkaufenden auf die Buchregale lenkt und dass einige Regeln für die Benutzung des Bereichs gut sichtbar formuliert wurden: kostenlose Mitnahme; bitte nicht mehr als zwei Bücher mitnehmen, Verzehr von Speisen und Getränken ist untersagt.

Die öffentlichen Bücherregale im ZO umfassen insgesamt 16 Regalmeter, also vergleichsweise viel. Wenn alles belegt wäre, fänden schätzungsweise 300 bis 350 Bücher dort Platz, allerdings klaffen meistens mehr oder weniger große Lücken im Bestand, weil laufend etwas entnommen, aber nicht immer etwas dafür eingestellt wird. Eine Ordnung für die Aufstellung gibt es nicht, alles steht querbeet durcheinander – nicht zuletzt macht dies den Reiz öffentlicher Bücherschränke aus.

Am Beispiel der Bücherschränke im Einkaufzentrum ZO Freiburg soll veranschaulicht werden, welche Genres in vielen öffentlichen Bücherregalen vertreten sind. Dies hängt im Wesentlichen davon ab, wer Literatur dort hinbringt und welche Erwägungen dem wohl zugrunde liegen könnten. Nach eigenen Beobachtungen sind es vielfach Erwachsene ungefähr vom 50. Lebensjahr aufwärts. Sie bringen einerseits Bücher, die vielleicht ihren (mittlerweile verstorbenen) Eltern gehört haben oder die in den eigenen Regalen zu Hause keinen Platz mehr haben, als entbehrlich erscheinen. Jedoch kann unterstellt werden, dass nicht einfach wahllos alles in das öffentliche Bücherregal getan wird, sondern dass mögliche Leseerwartungen durchaus antizipiert werden. Man macht sich also Gedanken über die potenziellen Zielgruppen, zumal es sein könnte, dass man beim Einstellen der Bücher beobachtet wird. Da wäre es unangenehm, wenn irgendwelcher »Schrott« abgelegt würde.

 
»Eine Gefahr für Öffentliche Bibliotheken stellen sie nicht dar, zumal sie sich eindeutig dem klassischen gedruckten Buch verpflichtet fühlen.«

Auffallend sind die Genres Krimi und Roman, ferner Lexikon und Wörterbuch, aber auch Ratgeber und Reiseführer, Kinder- und Jugendliteratur. Bei den Krimis handelt es sich häufig um Titel aus der schwarzen Taschenbuchreihe von Rowohlt, bei den Romanen sind es zum einen die vor allem den Nachkriegsjahrgängen noch vertrauten damaligen Lieblingswerke der Elterngeneration (Pearl S. Buck, Cronin und so weiter), zum anderen Bücher, die zur Trivialliteratur gerechnet werden (Caldwell, Danella, Fischer, Golon, Heinrich, Konsalik, Noack, Paretti, Pilcher, Robbins und andere). Aber auch Werke der Klassik (Fontane, Goethe, Schiller…) und der klassischen Moderne (Cormack McCarthy, Faulkner, Hemingway, Pasternak, Remarque, Stevenson, Traven und andere) beziehungsweise der Gegenwartsliteratur (Allende, Gordimer, Vargas Llosa…) mischen sich munter unter die Regalbestände im ZO. Daneben sind Kinder- und Jugendbücher (zum Beispiel Onkel Toms Hütte, die Heidi-Romane von Johanna Spyri, die vielgelesenen Jugendbücher von Enid Blyton), Reisebücher, Lexika, Sprachwörterbücher, Ratgeber für Gesundheit und Ernährung, auch für den Garten, religiöses und erbauliches Schrifttum, Geschichtswerke, politische Darstellungen (vor allem Biografien, beispielsweise zu Brandt und Wehner, aber auch Jahresbände der weißen Chronik-Reihe) und Bände der seinerzeit beliebten Reader’s Digest-Reihe vertreten.

Da nicht alle Menschen, die etwas in ein öffentliches Bücherregal stellen, über ausgeprägte Kenntnisse bezüglich des Werts von Büchern verfügen, können manchmal erstaunliche Funde gemacht werden. Der Verfasser selbst fand in einem öffentlichen Bücherregal kürzlich eine tadellose Ausgabe von Klaus Groths »Quickborn« in der Ausgabe von 1873 mit den wunderbaren plattdeutschen Gedichten, die ihm als geborenem Dithmarscher besonders viel bedeuten. So etwas muss man im äußersten Südwesten erst einmal finden – das öffentliche Bücherregal und die dort herrschenden glücklichen Zufälle machen es möglich.

Originell ist die Lösung in Freiburg-Ebnet, wo eine stillgelegte Telefonzelle als Ort für einen öffentlichen Bücherschrank dient. Auf der Eingangstür ist die »Benutzungsordnung« einsehbar:

 

»Eine ehemalige Telefonzelle als Ebneter Bücherhäusle, als öffentlicher Bücherschrank. Was ist das genau?
Dieser Schrank bietet die Möglichkeit, ganz einfach und kostenlos Bücher zu tauschen und weiter zu verschenken. Und wie funktioniert das?

Ein Bücherschrank lebt von reger Beteiligung. Deswegen ist Jede und Jeder dazu eingeladen, die Bücher in diesem Schrank mitzunehmen und zu lesen. Dabei steht völlig frei, ob man das gelesene Buch behält, wieder zurückbringt oder im Tausch ein anderes Buch in den Schrank stellt. Der Art der Bücher sind dabei keine Grenzen gesetzt: Romane, Gedichtbände, Krimis, Sachbücher, Kinderbücher – alles geht.

Generell beruht dieser öffentliche Bücherschrank auf dem Tauschprinzip, floriert also am besten, wenn ein reges Geben und Nehmen stattfindet.

Viel Freude beim Lesen.«

 

Was kann man daraus lernen, welche Vorzüge haben solche öffentlichen Bücherregale beziehungsweise Bücherschränke? Sie bieten: Inspiration zum Lesen, einen niedrigschwelligen Zugang, Anregungen zum Browsing (ähnlich dem Rückgaberegal in Öffentlichen Bibliotheken), die Einbettung in das Stadt-, Gemeinde- und Strandleben und einen dynamischen Umschlag der Lektüreangebote (kein statischer Bestand). Eine Gefahr für Öffentliche Bibliotheken stellen sie nicht dar, zumal sie sich eindeutig dem klassischen gedruckten Buch verpflichtet fühlen. Jedoch ist ihre Benutzung attraktiv, da sie an nur wenige Regeln und an keinerlei Anmeldung oder dergleichen gebunden ist.

Offensichtlich sind überwiegend eher ältere Menschen an öffentlichen Bücherregalen zu beobachten, kaum jüngere. Diese lassen sich dadurch wohl kaum von den Smartphones weglocken, hier hilft nur Leseförderung durch die Familie, die Schule und die Öffentliche Bibliothek. Eventuell sind es also die ohnehin buchaffinen Bevölkerungsgruppen, die öffentliche Bücherregale und Bücherschränke nutzen. In Stadtteilen mit eher lesefernen Bevölkerungsgruppen sind solche öffentlichen Bücherregale mutmaßlich eher selten anzutreffen, jedoch wäre dies genauer zu untersuchen, als es in diesem Essay möglich ist.

1 Vgl. Schmittner, Monika: Futterstellen für Leseratten. Offene Bücherschränke sind neue Attraktionen im öffentlichen Raum – Anmerkungen zur fantastischen Welt des geschriebenen Wortes. In: Spessart 114. Jg., April (2020), S. 14-17 (Alltägliches neu entdeckt: Straßenmöbel in Stadt und Land; Teil 7)

2 So bei: Ertl, Jürgen: »Seht her! Da wird gelesen!« – Öffentliche Bücherregale sind groß in Mode. Fördern sie die Leselust? Ein Faktencheck bei zwei Exemplaren in Cham und Deggendorf. In: Lichtung / Bayerwaldforum e. V. 30. Jg. (Okt. 2017) H. 4, S. 14-15

3 Vgl. Steeger, Liss: In Büchern legt die Seele aller gewesenen Zeit: von Mini-Bibliotheken in Weeze, Wemb und Umgebung. In: Weezer Geschichte Okt. 2017, 17 (2017), S. 92-102

4 Siehe dazu: Bornemann, Andrea: Ein Bücherschrank in Wenholthausen. In: Wennetaler, Nr. 13, 2018 (2019), S. 44-46

5 Vgl. Frenzel, Veronica, Nunu Kaller und Agata Szymanska-Medina: Just share it!: Der Guide zum Teilen, Tauschen und Leihen. Die besten Online- und Vor Ort-Initiativen […] . München: Knesebeck 2019

6 Siehe dazu auch: Sträter, Elisabeth: Tausch das Buch! Erster öffentlicher Bücherschrank in Nürnberg. In: Bibliotheksforum Bayern [N. F.] 6. Jg. (2012) H. 3, S. 171

7 Vgl. Schmidt, Irina: Die Straße als gelebter Raum. Wien: Technische Univ., Fak, für Architektur u. Raumplanung, Dipl.-Arb., 2017, S. 60. https://repositum.tuwien.at/handle/20.500.12708/1646 (22.02.2022)

Dr. Wilfried Sühl-Strohmenger war von 1986 bis 2015 an der Universitätsbibliothek Freiburg in verschiedenen Funktionen und Aufgabenfeldern tätig. Sein besonderes Interesse gilt dem Lehr-Lernort Bibliothek, der Förderung von Informationskompetenz und des wissenschaftlichen Schreibens. Langjährige Aktivität im Verein Deutscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare (vdb).

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