Im Zeichen der Völkerverständigung

Wo Studierende aus aller Welt zusammenkommen: Die Cité Internationale Universitaire in Paris und ihre Bibliotheken.
Das Foto zeigt den Eingang zum Campus der Cité Internationale Universitaire. Die Studierenden kommen durch sieben Rundbögen, an die links und rechts ein Gebäude grenzt auf den Campus.
Ein Ort der Versöhnung und kulturellen Vielfalt: Menschen aus rund 140 Ländern leben in den Häusern der Cité Internationale Universitaire in Paris. 1921 wurde von der Stadt ein rund vierzig Hektar großes Areal für die Studierendensiedlung bereitgestellt. Foto: Bedphil (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Entrée_Principale_-_Cité_U.jpg), »Entrée Principale - Cité U«, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode

 

Angesichts der erschreckenden Nachrichten und Bilder aus unserer europäischen Nachbarschaft, die das Leid vieler unschuldiger Menschen dokumentieren, wird es vielleicht selbst Optimisten fast unmöglich erscheinen, sich einen hoffnungsvollen Blick auf die Welt zu bewahren. In diesen Tagen stehen die Kriegsgeschehnisse in der Ukraine im Vordergrund. Hass, Wut und Verbitterung wachsen auf beiden Seiten der Front und die Menschheit sieht sich sogar von der Möglichkeit eines neuen Weltkriegs bedroht. Nach den jüngst berichteten Gräueltaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung wird inzwischen vielerorts auch die Ausgrenzung russischstämmiger Mitbürger gemeldet. Wer trotzdem auf ein irgendwie erreichbares Kriegsende setzt, das nicht die Vernichtung des Gegners zum Ziel hat, sondern auf einer vertraglichen Vereinbarung der Länder beruht, dem stellt sich dann auch die schwierige Aufgabe, irgendwie Möglichkeiten für ein künftiges friedliches Miteinander aufzuzeigen. Wie wollen sich die Menschen der Nationen, die jetzt direkt in den Krieg verwickelt sind, nach dem Ende der Kampfhandlungen begegnen, wie lässt sich wieder ein Zusammenleben ermöglichen und ein gegenseitiges Verständnis aufbauen? Die Verbitterung der heutigen Kriegsteilnehmer wird wohl anhalten, und daher dürfte die Hoffnung auf eine eventuelle Verständigung wohl eher in der Zukunft und vornehmlich auf der jungen Generation ruhen. Vor einem Jahrhundert, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, der Millionen Tod und Verwundung brachte, ist ein solcher Weg schon einmal beschritten worden, als in Frankreich einige Menschen ein Zeichen setzten, um für die junge Generation ein Projekt zu realisieren, das zur Verständigung zwischen den einst verfeindeten Nationen beitragen sollte.

Die Gründung der Cité

Der Mathematikprofessor Paul Appell, in den Kriegsjahren Gründer eines Hilfswerks für französische Witwen und Waisen, war vom Gedanken der Völkerverständigung durchdrungen, und als er im Frühjahr 1920 zum Rektor der Pariser Universität gewählt wurde, sprach er den Industriellen Émile Deutsch de la Meurthe an, der im internationalen Ölgeschäft ein Vermögen verdient hatte. Dieser ließ sich von dem Idealismus Appells überzeugen und sagte eine größere Fördersumme für den Bau eines Wohnheims für ausländische Studierende zu. Da sich im eng bebauten Pariser Universitätsviertel, dem sogenannten Quartier Latin, keine großflächigen Grundstücke finden ließen, auf denen sich ihr Konzept eines in parkartige Umgebung eingebetteten Studentenwohnheims realisieren ließe, zogen sie den Abgeordneten André Honnorat zu Rate, der wenige Wochen zuvor zum Minister für Volksbildung ernannt worden war. Honnorat wurde zum begeisterten Förderer des Projekts – heute gilt er als »spiritus rector« der Cité –, und als dann in der Nationalversammlung Pläne zum Abriss der im 19. Jahrhundert errichteten Pariser Befestigungsanlagen diskutiert wurden, erkannte er Chancen für eine Realisierung. Nach zähen Verhandlungen mit der Stadt Paris und mehreren Ministerien konnte Honnorat schließlich erreichen, dass ein rund vierzig Hektar großes Terrain am südlichen Stadtrand für das Projekt einer »Cité Universitaire« vorgesehen wurde. Im Sommer 1921, nur wenige Tage vor dem Rücktritt der Regierung, stimmte das Parlament dem Gesetz zu.

Auf dem Gelände vor den Bastionen 81 bis 83 der ab 1841 errichteten Stadtmauer, die in den Jahren 1923/24 abgetragen wurde, konnte der Mäzen den Grundstein für die ersten Wohneinheiten legen. Vorgesehen war ein Ensemble aus sieben Häusern im englischen Landhausstil, die insgesamt Unterkünfte für etwa 350 Studierende bieten. Schon im Sommer 1925 wurde die von der »Fondation Émile et Louise Deutsch de la Meurthe« gestiftete Anlage vom französischen Staats­präsidenten eingeweiht. Bereits vor deren Fertigstellung stieß das Konzept eines auf Internationalität angelegten Studentenviertels auf Interesse und Zustimmung im Ausland, und Stiftungen und Philanthropen aus anderen Ländern traten an die Pariser Universität heran mit der Offerte, dort gleichfalls studentische Residenzen errichten zu wollen. In den folgenden sieben Jahren wurden 16 weitere Wohnbauten errichtet, finanziert von Geldgebern aus Argentinien, Dänemark, Indochina, Japan, Kanada, Schweden, Spanien und den USA. Jedes Gebäude weist Eigenarten des jeweiligen nationalen Baustils mit typischen Schmuck­elementen auf und trägt zur architektonischen Buntheit des Campus bei.

 
»Die Bibliotheken sind in das vielfältige Veranstaltungsprogramm der 43 Häuser in der Cité eingebunden.«

 

Aber mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise geriet das Projekt ins Stocken. Immerhin waren bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs 19 variationsreiche Bauten fertiggestellt und damit Wohneinheiten für rund 2.400 Studierende geschaffen worden. Als im Juni 1940 deutsche Truppen Frankreich besetzten, mussten alle Studierenden die Anlage verlassen und die Gebäude wurden als Kasernen und Krankenhäuser genutzt. Nach 1945 okkupierte dann die amerikanische Armee das Ensemble, bis ab 1947 wieder studentische Bewohner das Areal belebten. Zu Beginn der 1950er-Jahre nahm die Bautätigkeit wieder zu und mehr als ein Dutzend neue Wohnheime entstanden. Heute existieren auf dem langgestreckten und locker bebauten Parkgelände 43 studentische Residenzen mit einer Kapazität für rund 6.800 Studierende. Fünf dieser Residenzen gelten als außergewöhnliche Bauten, die im Verlauf der Jahre in die französische Denkmalliste aufgenommen wurden. Die gepflegte Anlage im 14. Pariser Arrondissement, die seit den frühen 1960er-Jahren durch die Stadtautobahn »Boulevard Périphérique« begrenzt wird, ist mit der Vorortsbahn RER vom Stadtzentrum aus in wenigen Minuten zu erreichen.

Von Studierenden aus dem Ausland, die sich auf dem angespannten Wohnungsmarkt der Seine-Metropole schwertun und sich die hohen Mieten im Zentrum oftmals nicht leisten können, wird eine Unterkunft in der Cité gern angenommen. Die Pariser Universität oder die mit der Verwaltung eines Wohnheims beauftragten Organisationen stellen sicher, dass die Zuweisung der Bewerber nicht allein nach Nationen erfolgt, sondern dass jedes Haus eine multinationale Studentenschaft beherbergt. Jede Residenz bietet eine Vielfalt von sportlichen, künstlerischen und akademischen Veranstaltungen und sucht so den Intentionen der Gründerväter zu entsprechen, kulturelle Diversität zu vermitteln und die Kontaktaufnahme mit den aus rund 140 Ländern kommenden Mitbewohnern zu erleichtern. Während der Monate, als wegen der Corona-Pandemie Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen herrschten, war die Zahl der belegten Zimmer aber deutlich reduziert. Um dennoch Kontakte zu ermöglichen, tauschten die Häuser untereinander Studierende über die sogenannte »brassage« aus, denn in der Cité gilt die Regel, dass in jedem Haus mindestens 30 Prozent der Bewohner aus anderen Nationalitäten stammen sollten.

Die Bibliotheken der Cité

Als Ende der 1920er-Jahre mehrere Residenzen zugleich entstanden, erachteten die Planer es als nötig, auch ein zentrales Veranstaltungs- und Verwaltungsgebäude vorzusehen, aber dessen Finanzierung war noch nicht gesichert. Dank Vermittlung von Monsieur Honnorat konnte John D. Rockefeller Junior, der Sohn des amerikanischen Ölmagnaten, der sich bereits als Mäzen von Kulturprojekten in Frankreich engagiert hatte, als Förderer eines solchen Baus gewonnen werden. Der von ihnen gemeinsam ausgearbeitete Plan sah ein dem Schloss Fontainebleau nachempfundenes Gebäude vor, das Rockefellers Vorstellung von historischer Bedeutung und maßvoller Pracht­entfaltung entsprach. In die symmetrische, zweiflügelige Anlage wurden ein Restaurant, ein Theater, ein Festsaal, ein Schwimmbad, Büros, Apartments für »visiting scholars« sowie eine Bibliothek integriert. Im November 1936 weihte der französische Staatspräsident das Bauwerk als »Maison Internationale« ein.Auf dem seit 1963 »Cité Internationale Universitaire de Paris« (CIUP) genannten Gelände, das 1998 unter Denkmalschutz gestellt wurde, werden keine akademischen Kurse abgehalten. Die dort wohnenden Studierenden sind an den zahlreichen Hochschulen im Großraum Paris immatrikuliert, die insgesamt ein dichtes Bibliotheksnetz mit einem breiten Literaturangebot unterhalten. Somit entfällt die Notwendigkeit, in der Cité ein eigenes Bibliotheksnetz mit größeren Beständen bereitzuhalten.

Die dort in einigen Häusern eingerichteten Bibliotheken wollen vielmehr nur einführende Schriften zur Orientierung anbieten, die die Geschichte und Kultur ihrer jeweiligen Nationen beleuchten. Allen Bewohnern der Cité stehen die Sammlungen kostenlos zur Verfügung. Manche unterstützen auch den Erwerb der Sprache ihres Landes durch Konversationskurse sowie ein Sprachlabor. Die folgenden neun Nationen-Häuser unterhalten jeweils eine Bibliothek:

 

  • Bereits 1927 wurde die Maison du Maroc eingeweiht, ein langgestreckter fünfgeschossiger Wohnblock mit 230 Studentenzimmern.
  • Die Maison de l‘Argentine war gleichfalls einer der ersten auf dem Campus errichteten Wohnbauten, eingeweiht 1928. In den beiden Gebäuden, gruppiert um einen kleinen Garten, gibt es 75 Wohneinheiten.
  • Seit 1929 existiert die Maison du Japon, ein von traditioneller japanischer Architektur inspirierter Baukörper mit 60 Residenzen.
  • Das Gebäude der Fondation Hellénique, errichtet mit Schmuck­elementen der klassischen Architektur Griechenlands, wurde 1932 eingeweiht und umfasst 90 Wohneinheiten.
  • Das Collège d‘Espagne, ein vierstöckiger Bau flankiert von zwei mächtigen Türmen, wurde im Stil des Palastes von Herzog Alba in Salamanca erbaut. Das Gebäude mit 120 Zimmern wurde 1935 eröffnet.
  • Die Maison de Mexique, ein moderner Bau mit fünfgeschossigem Wohnturm, wurde 1953 eröffnet und umfasst 92 Wohneinheiten.
  • Das deutsche Haus wurde 1956 eingeweiht und 1967 in Maison Henri Heine umbenannt. Der viergeschossige zentrale Baukörper, flankiert von Pavillons, wurde als lichte Stahl-Glas-Konstruktion errichtet und bietet 104 Studienzimmer.
  • Das Gebäude der Maison d‘Italie mit seinen 88 Wohneinheiten wurde im faschistischen Baustil der 1930er- Jahre konzipiert, aber erst 1958 eingeweiht.
  • Erst 1967 öffnete die Maison du Portugal seine Tore, bestehend aus zwei parallel gesetzten Baukörpern mit zusammen 190 Wohneinheiten.

 

Die bedeutendste bibliothekarische Einrichtung der Cité, die nicht einer Nation zugeordnet ist, befindet sind in der Maison Internationale. Die »Bibliothèque Centrale«, die im vorigen Jahr eine umfassende Renovierung und eine moderate Erweiterung erfuhr, empfängt ihre Benutzer in einem hohen, durch große Rundbogenfenster belichteten Lesesaal, der im Stil des Klassizismus ausgestaltet wurde. An den beiden Stirnseiten prangt, über einem Kamin, jeweils ein großflächiges Gemälde, das die Völkerfreundschaft sowie die Gründung der Pariser Universität evoziert. Den Benutzern stehen 190 Arbeitsplätze sowie drei Gruppenarbeitsräume zur Verfügung. Jeder Arbeitsplatz hat Elektroanschluss, das Internet ist über WIFI zugänglich, zudem wurden zehn Internetarbeitsplätze eingerichtet. Der Buchbestand, vornehmlich Schriften zur Einführung in die französische Kultur, enthält überwiegend französische Titel, doch sind auch Werke in mehreren europäischen Sprachen verfügbar. Das Medienangebot wird mit circa 50.000 Bänden beziffert, hinzukommen 380.000 E-Books, 9.800 E-Zeitschriften und 63 Datenbanken. Angeschlossen ist ein Sprachlabor, das nicht nur Kurse in Französisch anbietet, sondern weitere 26 Sprachen aus aller Welt, und durch einige Übungsprogramme können sich Benutzer auf verschiedene Fremdsprachenprüfungen vorbereiten.

Die Bibliotheken sind in das vielfältige Veranstaltungsprogramm der 43 Häuser in der Cité eingebunden, das jedes Jahr mehr als eintausend Termine vorsieht, von Konzerten und Theateraufführungen bis zu Ausstellungen und Konferenzen. Die Bewohner sind nicht nur als Zuschauende eingeladen, sondern sie können und sollen sich engagieren, damit sie persönlich die Vorteile internationaler Kooperation erfahren, die auf Toleranz und Solidarität basiert und den offenen Dialog zwischen den Kulturen befördert.

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