Back to normal?

Ein Statement zum Panel »Was bleibt? New Services nach der Corona-Pandemie« auf dem 8. Bibliothekskongress in Leipzig.
Foto: ake1150 - stock.adobe.com

 

Wie verändern die Auswirkungen der Corona-Pandemie die Bibliotheken? Wie verändern sich die Angebote und Services? Diese Fragen beschäftigen uns alle. Eine allgemeingültige Antwort wird es wohl dazu noch nicht geben, dafür ist es noch zu früh. Einige Gedanken und Impulse von Stephan Schwering, Leiter der Zentralbibliothek der Stadtbüchereien Düsseldorf.

Die digitalen Bibliotheksangebote sind ein eigener, digitaler Ort. Diesen eigenen Ort zu einem »dritten digitalen Ort« zu machen, muss die Aufgabe von Bibliotheken in der Zukunft sein. Das Analoge kennen und können wir. Öffentliche Bibliotheken sind bereits jetzt die »Dritten Orte« der Stadtgesellschaft. Die von Ray Oldenburg aufgestellte Theorie des »Dritten Ortes« zwischen Arbeit und Zuhause haben viele Bibliotheken in den vergangenen Jahren in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, was passiert, wenn dieser »Dritte Ort« fehlt und welche Herausforderungen damit für Bibliotheken verbunden sind: Bibliotheken wurden ganz schnell wieder auf eine Ausleih- und Thekenbibliothek reduziert – auch wenn sich »Click & Collect« vielleicht besser angehört hat.

Das Angebot war während der Lockdowns sicherlich gut und sinnvoll, insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger, die keine Online-Medien nutzen konnten oder wollten – ganz abgesehen davon, dass immer noch nicht alles, was als Gedrucktes zur Verfügung steht, auch digital verfügbar ist. Dennoch blieb für mich dabei ein fahler Beigeschmack im Hinblick darauf, wie Bibliotheken in der breiten Öffentlichkeit und damit auch von der Presse immer noch wahrgenommen wurden: als Ausleihstationen. Eine starke Online-Präsenz und -Kommunikation und eine konsequente und ausgebaute Digitalstrategie erschien mir in der Schließungszeit für die Bibliotheken als viel essenzieller. Dies ist parallel zum »Dritten Ort«-Konzept weiter notwendig. Damit könnten Bibliotheken die Zukunftsorte der Stadtgesellschaft werden, weil sie einen nicht-kommerziellen, analogen Raum mit digitalen Angeboten und Konzepten verknüpfen können – ein Alleinstellungsmerkmal.

Bibliotheken haben dadurch das unglaubliche Potential die Orte der Zukunft zu werden, wenn sie sich auch digital so gut als »Dritten Ort« aufstellen würden, wie sie es in den Jahren vor der Pandemie bereits analog getan haben, um diese beiden Orte nun zusammenzuführen. Doch dafür müssen Bibliotheken das, was digital durch die Pandemie in Bewegung gekommen ist, auch in Bewegung halten. Die Verbindung – um nicht zu sagen die Versöhnung – beider Bereiche macht die Bibliothek der Zukunft aus. Was nicht passieren darf, ist ein ersehntes, erleichtertes Zurück zum Analogen und das Zurückfahren der digitalen Aktivitäten und Formate. Natürlich werden die Menschen auch »Hunger nach echter physischer Begegnung« haben. Manchmal habe ich die Befürchtung, dass wir uns zu sehr auf das konzentrieren, was den Menschen gefehlt hat und nach der Pandemie wieder zur Verfügung steht. Wir dürfen uns nicht nur erleichtert zurücklehnen! Sicherlich muss man prüfen, was nur wegen des Lockdowns und der Pandemie digital relevant war, zugleich werden wir in Zukunft vermutlich so hybrid und so digital leben, wie niemals zuvor.

 
»Die digitalen Bibliotheksangebote sind ein eigener, digitaler Ort. Diesen eigenen Ort zu einem ›dritten digitalen Ort‹ zu machen, muss die Aufgabe von Bibliotheken in der Zukunft sein.«

Durch die Pandemie insbesondere, aber auch schon davor, gab und gibt es Menschen, die die Online-Angebote einer Bibliothek nutzen, ohne die Bibliothek selber jemals physisch zu betreten. Akzeptieren wir das! Fördern wir das! Und bieten wir diesen Bürgerinnen und Bürgern digital die gleiche Zuwendung, Beratung, Information, Kommunikation und Veranstaltungen wie unseren Besucherinnen und Besuchern vor Ort. Im Analogen stellen wir ja auch ein Buch nicht nur ins Regal, sondern beraten, informieren, kommunizieren und bieten kulturelle und digitale Bildung durch Veranstaltungen vor Ort an. Durch den Schub der Digitalisierung in der Corona-Pandemie werden es sicher noch mehr sein, die dies von uns auch im Netz erwarten. Die Wirksamkeit von Bibliotheken im Netz ist ausbaufähig. Bibliotheken bringen auch in der realen Welt die Menschen zusammen, also folgerichtig sollten sie dies auch in der virtuellen tun. Die Chancen sind groß. Ergreifen wir sie. Bleiben wir gleichermaßen digital und analog präsent.

Der schweizerische Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder schreibt in seinem sehr empfehlenswerten Buch »Kultur der Digitalität«1: »… viel weniger soll das ›Digitale‹ vom ›Analogen‹, das ›Immaterielle‹ vom ›Materiellen‹ abgegrenzt werden. Auch unter den Bedingungen der Digitalität verschwindet das Analoge nicht, sondern wird neu be- teilweise
sogar aufgewertet.« (S. 18). Genau hier liegt die Chance der Bibliotheken nach der Corona-Krise: Wir alle werden viele Dinge des Analogen neu wertschätzen und uns danach zurücksehnen, uns wieder mit anderen zu treffen, auszutauschen, zu kommunizieren. Dennoch: Die Fähigkeit zur digitalen Transformation unserer Dienstleistungen und unseres Selbstverständnisses ist entscheidend für den Erfolg und das Bestehen von Bibliotheken in der Zukunft.

Digitale Communities stärken die Bibliothek

Viele Bibliotheken haben während der Lockdown-Phasen einen großen Run auf Ihre digitalen Angebote erlebt (auch weil viele Bibliotheken, wie wir bei den Stadtbüchereien Düsseldorf, ein zeitweise kostenfreies DigitalAbo angeboten haben). Viele Bürgerinnen und Bürger haben dadurch die digitalen Angebote der örtlichen Bibliothek sogar zum ersten Mal wahrgenommen. Spätestens jetzt wurde klar, wie wichtig es ist, das digitale Angebot einer Bibliothek wie zum Beispiel die Onleihe eigenständig zu denken. Es ist ein eigener, digitaler Ort. Bibliotheken bieten den Zugang dazu und sind vertrauenswürdige Partnerinnen für die Bürgerinnen und Bürger im Netz, virtuelle Inseln für fundierte Information und gute Inhalte. Die Corona-Krise und die damit verbundene Schließung von Bibliotheken wird wahrscheinlich zu einer größeren Verbreitung der digitalen Bibliotheksangebote geführt haben, als jede andere Werbemaßnahme der geöffneten Bibliotheken zuvor es je vermocht hat. Das ist nicht überraschend und dennoch kann es uns etwas verdeutlichen: Die digitalen Angebote und die digitale Kommunikation haben in dieser Zeit neu zueinander gefunden – und das war notwendig.

 
»Die Wirksamkeit von Bibliotheken im Netz ist ausbaufähig.«

Insofern bietet sich Bibliotheken eine Chance über eine reine Nutzungssteigerung der digitalen Angebote hinaus. Bibliotheken benötigen dafür ein Community-Management für ihre digitalen Angebote. Das heißt zum Beispiel aber auch dort im Analogen präsent zu sein, wo sich die digitalen Communities treffen: Viele wertvolle, potentielle Multiplikatoren der »Digitalen Community« haben eine Bibliothek lange nicht besucht und wissen daher nicht, was die Bibliothek für ein Ort sein kann, wie wichtig eine Bibliothek für die Stadtgesellschaft ist und deshalb: gehen wir aktiv »out of the box« in die Stadt, auf Konferenzen, Barcamps, Meetups, einfach raus mit den Inhalten der Bibliothek! Denn: »Digitale Kultur ist dabei maßgeblich geprägt von Gemeinschaft, übersetzt: Community. Aufbauen, pflegen und erhalten von Communities ist Beziehungsmanagement. Community Management ausschließlich als Teil des Marketings zu verstehen, greift zu kurz, denn Beziehungen werden nicht »gelauncht«, sondern von einzelnen oder wenigen initiiert und werden über einen Zeitraum im besten Fall zur »Gemeinschaft«.2 So die Bloggerin Simone Orgel über die Wirksamkeit digitaler Community-Arbeit.

Dies wird über die Pandemie hinaus Bedeutung für Bibliotheken haben. Auch wenn man nie alle Bürgerinnen und Bürger in den Sozialen Medien erreicht: Spätestens währender der Pandemie werden viele Bibliotheken gemerkt haben, wie wichtig nicht nur ein Account und die Präsenz in sozialen Netzwerken ist, sondern auch ein ausgebautes Netzwerk, eine Community mit einer ausreichenden Anzahl an Fans und Followern. Sie tragen die Angebote nach außen, sie geben Feedback, Kritik und auch Ermunterung. Ich wünschte mir, dass viele Bibliotheken nun merken, wie unheimlich wichtig die digitale Community-Arbeit in den sozialen Netzwerken ist. Seit vielen Jahren bin ich Verfechter einer starken Präsenz der Bibliotheken in den sozialen Netzwerken3. Ich halte Social Media und Digitale Kommunikation für eine Führungsaufgabe, da sie auch immer mit der Bereitstellung von Personalressourcen einhergehen muss. Die Diskussionen über Social Media und ihre Gefahren, bezogen auf die Werte unserer liberalen Demokratien, Datenschutz und Datenmissbrauch sollten dabei eher einen Auftrag für Social-Media-Aktivitäten von Bibliotheken ableiten als eine Ablehnung.4

 
»Die Fähigkeit zur digitalen Transformation unserer Dienstleistungen und unseres Selbstverständnisses ist entscheidend für den Erfolg und das Bestehen von Bibliotheken in der Zukunft.«

Bibliotheken müssen »digitale dritte Orte« werden. Die Krise hat uns meines Erachtens gezeigt, dass wir in Bibliotheken eben noch viel digitaler denken müssen und zwar nicht in der Form, dass wir noch mehr zusätzliche Medien und Inhalte digital zur Verfügung stellen. Wir müssen über die reine Übertragung des Analogen ins Digitale hinausgehen und wirklich digital denken und dort kommunikativer werden. Wir müssen mehr Beratungen online anbieten, Veranstaltungsformate auch immer digital denken, im Internet und den Sozialen Medien ansprechbar sein – einfach im Netz als kompetente Medienpartner und Informationsdienstleister für Bürgerinnen und Bürger präsent sein und eine Plattform bieten – aber nicht nur mit Medienangeboten selbst, sondern verstärkt mit der Vermittlung und Beratung!

Die Mitarbeitenden

Helfen kann uns dabei, die Flexibilität und die Offenheit der Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die sie an vielen Stellen in der Pandemie bewiesen haben. Diese gilt es zu bewahren, zu fördern und in agile Arbeitsweisen zu transformieren und zu verstetigen. Wir müssen uns dabei in den Bibliotheken auch ehrlich fragen, wo wir in Zukunft unsere Personalressourcen einsetzen wollen: Interne Arbeiten wie beispielsweise Bestandsaufbau, Katalogisierung, inhaltliche Erschließung, technische Medienbearbeitung müssen weiter konsequent outgesourct, vor Ort auf ein notwendiges Minimum beschränkt oder künftig mithilfe von KI personell entlastet werden. KI-Projekte und Forschungen gibt es dazu schon einige. Wir müssen die Arbeitsschwerpunkte in den Bibliotheken weiter verschieben.

Das Kuratieren von hochwertigen Inhalten können Bibliothekarinnen und Bibliothekare – auch digital (sofern es die Verlage ermöglichen). Sie könnten aber noch viel mehr und das wird meiner Meinung zur Kernkompetenz unseres Berufsstandes werden: Wir brauchen eine stärkere, neue digitale Aktivität von Bibliotheken. Dabei es ist Zeit, Schluss damit zu machen, Social Media und Digitale Kommunikation als eine »Ad on« zu sehen. Das Digitale in Form von kommunikativer Kompetenz ist eine Kernaufgabe der öffentlichen Bibliothek. Der »Digital Librarian« muss jetzt Standard werden. Kommunikation über Videochats, das Beherrschen von Social Media Kanälen, Bloggen, Veranstaltung zu Medienkompetenz, Lesekompetenz, kultureller Bildung und die Vermittlung an die Bürgerinnen und Bürger gehört in den Fokus – neben der gleichwertigen Präsenz in unseren Häusern.

Wie vermitteln wir künftig die Wirksamkeit von Bibliotheken (im Netz?)

Wir alle wissen, dass die Ausleihzahlen als die frühere zentrale Kennzahl keine große Aussagekraft von der Wirksamkeit von Bibliotheken mehr haben und die Angebote nicht ausreichend würdigen. Wir benötigen neue Kennzahlen, auch über die Wirksamkeit von digitalen Bibliotheksangeboten im Netz, die man nicht einfach abbilden kann. Ein Beispiel: Wir haben in der Zentralbibliothek in Düsseldorf ein Veranstaltungsformat #blogsofa. Dieses Format verbindet digitales Leben mit dem analogen Raum, in dem Influencer, Bloggerinnen und Blogger oder andere interessante Menschen aus dem Netz in die Bibliothek zu einem Interview eingeladen werden. Vor Ort sind manchmal nur 15 bis 20 Zuschauer. Die Reichweite ins Netz ist dadurch, dass die Veranstaltung gestreamt wird, mit bis zu 500 Aufrufen (auch im Nachhinein) viel höher. Gleichzeitig spricht das Format selbst die Community an und wird von ihr gewertschätzt … Wie will man das in reinen Kennzahlen abbilden?

Für Werte eintreten

Die Pandemie hat auch gezeigt, wie es in Teilen in unserer Gesellschaft aussieht und wie Desinformation verbreitet wird. Das muss für Informationspezialistinnen und -spezialisten wie
Bibliotheksbeschäftige doch unerträglich sein. Wir dürfen daher den Neutralitätsbegriff von Bibliotheken nicht weiter verklären. Bibliotheken sind nicht neutral. Bibliotheken treten ein für unsere demokratische Grundordnung, unsere Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit, eine diverse und multikulturelle, offene Gesellschaft. »Ein Manifest für ein globales Bibliothekswesen« von R.David Lankes5 sollte auch als Folge der Pandemie in vielen Bibliotheken stärker Gehör finden.

Bibliotheken müssen nun genau beobachten, wie sich die Gesellschaft durch die Folgen der Pandemie verändert hat und verändern wird. In der Vision 2025 für die Zentralbibliothek der Stadtbüchereien Düsseldorf steht an erster Stelle »Menschen und ihre aktuellen Lebenswirklichkeiten machen das Wesen der Zentralbibliothek aus. Sie stehen im Mittelpunkt allen Handelns.« Durch die Pandemie hat dieser Satz der Vision eine ganz neue Dringlichkeit und Verbindlichkeit wohl über 2025 hinaus erhalten.

 

1 Stalder, Felix: »Kultur der Digitalität«, Berlin 2016

2 Orgel, Simone: »Von Situationen mit Potenzial und Gelegenheiten der Verführung – Strategie als Denken in Communitys.« / zuletzt aufgerufen am 09.06.2022

3 Vgl. Kahmann, Karoline; Schwering, Stephan: »Warum moderne Bibliotheken in Social Media aktiv sein müssen: Sieben ›glorreiche‹ Gründe – 2021 Update« Blog ZBW-Mediatalk / zuletzt aufgerufen am 09.06.2022

4 Vgl. Schwering, Stephan: »Eine neue Herausforderung für Bibliotheken in Social Media: warum Bibliothekarinnen und Bibliothekare Hashtags lieben sollten.« In: BuB – Forum Bibliothek und Information 06/2021, S. 332 / zuletzt aufgerufen am 09.06.2022

5 Lankes, R. David: »A manifesto for global librarianship« / zuletzt aufgerufen am 09.06.2022

Stephan Schwering, geboren 1969, war seit 1992 in leitenden Funktionen in Mittelstadtbibliotheken in NRW tätig und  von 2008 bis 2013 Mitglied im Vorstand des Verbandes der Bibliotheken des Landes NRW. Er ist der Initiator der »Nacht der Bibliotheken« in Nordrhein-Westfalen, die seit 2005 alle zwei Jahre stattfindet (erneut 2023). Von 2008 bis 2014 gehörte er dem Fachbeirat der ekz.bibliotheksservice GmbH an. Seit 2014 ist Stephan Schwering Leiter der Zentralbibliothek der Stadtbüchereien Düsseldorf und maßgeblich mitverantwortlich für den internen Zukunftsprozess und dem »Herz&Hirn«-Konzept der neuen Zentralbibliothek im KAP1, die im November 2021 mit großem Erfolg eröffnet wurde. Er hält Social Media in Bibliotheken für eine Führungsaufgabe, beschäftigt sich stark persönlich mit Communitybuilding, Digitale Gesellschaft und digital-analogen Bibliothekskonzepten. – Bei Twitter: @StpnLibrarian

Interessantes Thema?

Teilen Sie diesen Artikel mit Kolleginnen und Kollegen:

Kommentare

Nach oben